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Gibt es eine moralische Phantasie?

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Wer Willy Kramp am Anfang der fünfziger Jahre begegnete, sah in ein offenes Gesicht mit klaren Augen. Ein Mensch von unbedingter Aufrichtigkeit und ein gläubiger Christ, der die Prüfungen von Krieg und fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion bestanden hatte - das war der Eindruck, der sich von diesem Manne einprägte. Heute, da Wüly Kramp das siebzigste Lebensjahr voüendet, haben sich Falten um die Augen gelegt, Spuren überstan-dener Krankheiten zeichnen das Gesicht, und zu der Offenheit gesellt sich häufiger als früher das Lächeln des Humors.

Immer noch lebt er in seinem Haus in Villigst bei Schwerte an der Ruhr, wo er von 1950 bis 1957 das „Evangelische Studienwerk“ leitete. Wenn man von dem Annette-von-Droste-. Hülshoff-Preis und dem Doktor honoris causa der Theologie absieht, sind die großen Ehren der Welt an ihm vorübergegangen. Seine Stimme verdiente, mehr gehört zu werden. WÜly Kramp ist einer der wichtigsten christlichen SchriftsteUer der heutigen deutschsprachigen Literatur.

Uber seine Arbeit schrieb Wüly Kramp: „SoUte es nicht auch so etwas geben wie moralische Phantasie? -eine Phantasie also, die auf das Wohl der Gesellschaft, auf den Bestand des Menschlichen gerichtet ist? Ich halte viel davon, daß sich in der Dichtung die Faszination des Budes mit der Wahrheit des Sinnhaften verbindet. Und es scheint mir an der Zeit, einen Begriff literarischer Qualität zu gewinnen, der sowohl das Schöne als auch das Sittliche in sich begreift.“

Kramps erster großer Wurf, Die Fischer von Lissau, handelt von einer religiösen Erweckung unter Bauern und Fischern am Frischen Haff in Ostpreußen. Der Autor schreibt rückblickend über die Entstehung dieses Romans:

„Ich hatte nicht den Vorsatz, durch meine Erzählung die Geschichte von Sünde und Erlösung evident zu machen; ich berichtete eigentlich ganz unbefangen von den Menschen, mit denen ich zusammenlebte. Ich sah nur genau hin, wie ihr Denken, Leben, Fühlen in Wirklichkeit war. Und dabei ergab sich (für mich jedenfaUs), daß die Bibel die Wahrheit über den Menschen spricht und daß Luthers

.zugleich Sünder und gerecht' aus dieser Wahrheit stammt.“

Aus eigener Erfahrung schüdert Kramp in seiner Erzählung Was ein Mensch wert ist Stumpfsinn und Verrohung der deutschen Kriegsgefangenen in Rußland. Hunger, Eigensucht und Unglaube scheinen das Menschüche in ihnen zerstört zu haben. Doch ein besonderes Ereignis offenbart den Wert des einzelnen Menschen. „Zwei der Unsrigen achteten ihr Leben gering für uns, so viel waren wir also noch wert.“

Das Gefangenenlager in Rußland ist der Hintergrund auch der Erzählung Die Prophezeiung. Ein deutscher Kriegsgefangener leistet für seinen Bruder stellvertretende Sühne und stirbt elend, aber gläubig.

Der Gedanke des steUvertretenden Opfers steht auch in der Mitte der sich zwischen Traum und Wirklichkeit bewegenden Erzählung Das Lamm. Der vierzehnjährige Bernd, ein Dortmunder Arbeiterkind, möchte ein von ihm aufgezogenes Lamm, seinen einzigen Spielgenossen, vor dem Geschlachtetwerden retten, läuft mit ihm durch den „Kohlenpott“ und bückt dabei in eine Reihe erschütternder Menschenschicksale der Nachkriegszeit hinein. Bei seinem Onkel in Mönchshüffen wird schließlich ein anderes Lamm an SteUe von Bernds Lamm geschlachtet.

In den zehn Jahren, in denen Kramp für die öffentiichkeit als Erzähler verstummt war, erschien, neben einigen Essays, sein Bericht Brüder und Knechte. Hier gibt sich der Autor mit rückhaltloser Ehrlich-keit Rechenschaft über seine Erfahrungen im Krieg und im Kriegsgefangenenlager. Zum Erschrecken deutlich wird hier, wie tief der Mensch in extremen Situationen sinken kann. Keine Gemeinheit wird beschönigt, keine verurteüt. „Wir sind tief verwundet durch die Erkenntnis, wie winzig klein der Schritt zum Schuldigwerden ist.“

Fast siebzigjährig, überraschte Wiüy Kramp mit zwei neuen Romanen sehr verschiedener Art. Herr Adamek schüdert einen älteren, etwas schruüigen Mann, der seine im Garten gewonnenen Weisheiten den Mitmenschen zukommen lassen möchte. Auf eine komische Weise scheitert er immer wieder bei seinen missionarischen Versuchen. Adamek „glich ziemlich genau dem Verfasser dieses Buches“, schreibt Kramp; er nimmt sich also in diesem den Leser zum Lachen reizenden Roman immer wieder selber auf die Schuppe. Der Humor ist nicht ohne Ernst. So etwa in dem Gespräch Adameks mit seinem Schwiegersohn. Dieser sieht in der Ausbeutung das Gesetz dieser Welt und ist entschlossen, es zu ändern. Adamek gibt dagegen zu bedenken: „Du sagst, das Kind im Mutterleib beutet die Mutter aus. Aber die Mutter? Opfert sie nicht gern ein Stück ihres Lebens für ihr Kind? Die Erde wird ausgebeutet von allem, was auf ihr wächst. Aber ist sie nicht dafür geschaffen, sich dem Wachsenden zu opfern? ... Ernährt sich nicht eines vom Opfer des anderen? ... Nicht durch Ausbeutung wird die Welt erhalten, sondern durch Opfer.“

Von weiterem Zuschnitt, äußeriich wie geistig, ist der Roman Zur Bewährung. Die 22 Kapitel sind abwechselnd Bürgern in den Mund gelegt, die gemeinsam versuchen, einem auf Bewährung entlassenen jungen Strafgefangenen zu helfen. Obwohl so brisante Themen wie Terrorismus zur Sprache kommen, fehlt es auch diesem Werk nicht an nachsichtiger Güte, verstehender Kritik und Humor.

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