Septemberwünsche

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Gedanken über die Sehnsucht nach Erlösung.

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Gedanken über die Sehnsucht nach Erlösung.

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„Ach hör nicht auf mich zu fragen.“ Wie ein stilles Blitzgebet begleitet mich diese Bitte von Dorothee Sölle schon seit Längerem. Sie verdankt sich einer Theologie, die der Antwortlosigkeit der Fremdzeit nach dem 2. Weltkrieg geschuldet war. Paul Tillich hatte auf die Sehnsucht nach Antwort seelsorgerlich in seiner „Methode der Korrelation“ gefordert, dass die Frage der Antwort entsprechen müsse: Menschsein bedeute, „nach dem eigenen Sein fragen und unter dem Eindruck der Antworten leben, die auf diese Frage gegeben wurden“. Die Koordinaten des Frage- und Antwort-Korrelats indes scheinen in der heutigen Fragekultur aufgelöst. Die Fragen sind über die Existenzufer getreten. Der Verlust des real fragenden Gegenübers ist noch unerkannt in der digitalen Eigenwelt. Übersehen die Gefahr, allen Warnungen zum Trotz, an die Lüge zu glauben. Jeder und jede fragt irgendwen irgendetwas. Zeitungen fragen. Kirchen, Kulturinstitutionen fragen. Viele fragen unhinterfragt überall in diesem Second Life irgendetwas. Für einen Klick?

„Ach hör nicht auf mich zu fragen.“ Diese Gebetsbitte ist mein tiefer Septemberwunsch für den Beginn eines neuen Fragejahrs in den Schulen, Universitäten, Lehrstätten, im Park, im Krankenhaus, auf der Geburtstagsfeier, am Hochzeitstag, an allen Orten, wo wir Menschen in unserer Eigenzeit und zugleich in dieser Fremdzeit sind. „Menschen töten wieder für Götter“, schreibt Kate Tempest. „Uns tötet das Geld.“ Menschen „leben in so vollkommener Einsamkeit, dass Freundschaften daraus gestrickt sind“.

Ich habe eine Sehnsucht: dass wir einander aus der Verstrickung erlösen. Dass wir im Lebensmuster von Frage- und Antwort bleiben. In der Erkenntnis, dass dies die schöne Möglichkeit der gegenseitigen Würdigung ist. Und dass glauben heißt: „Hör nicht auf mich zu fragen!“

Die Autorin ist evangelische Pfarrerin i.R.

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