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Henze-Premiere in London

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In der Londoner Queen Elisabeth Hall fand unter der Leitung des Komponisten die Uraufführung von Hans Werner Henzes „Stimmen“, einer abendfüllenden „Sammlung von Liedern für zwei Singstimmen und Instrumentalgruppen“ statt. Das Stück wurde im Auftrag der London Sinfonietta geschrieben und von ihr gespielt.

Eine Sammlung von 22 Liedern, jedes von verschiedenen Instrumenten begleitet, in vier Sprachen gesungen, von 14 verschiedenen Autoren stammend, 22 Freunden gewidmet: all das deutet hin auf Vielschichtigkeit und auf ein weit verzweigtes Beziehungsnetz. „Den Zusammenhang“, so betont Henze ausdrücklich, „gewährt ausschließlich meine eigene politische Perspektive und mein gefühlsmäßiges Engagement, und sie sind wichtiger als jede Erzählung und jede musikalische Struktur.“

Oft besteht das begleitende Instrumentarium nur aus zwei bis drei Spielern, aber Henze benötigt 46 verschiedene Instrumente und ein ganzes Arsenal europäischer und exotischer Schlagzeuginstrumente, um genau das Klangbild herzustellen, das ihm für die verschiedenen Gedichte vorschwebt. Stets wird durch die Instrumentation eine Atmosphäre ins Leben gerufen, die jedem Lied seinen spezifischen Charakter verleiht, jedoch stehen zur Bedienung der 46 Instrumente und der Perkussion nur 15 Spieler zur Verfügung, und so kommt es, daß jedes einzelne Orchestermitglied mindestens drei, manchmal sogar bis zehn Instrumente spielen muß und sich selbst durch Maultrommel oder Akkordeon, Glasharfe oder Mundharmonika nicht einschüchtern lassen darf.

Es besteht gar kein Zweifel, das Stück ist der London Sinfonietta förmlich auf den Leib geschrieben, und selbst Kettenrasseln, Ballonschießen, Fußstrampeln und im Chor singen sind Dinge, die von ihnen „selbstverständlich“ akzeptiert werden. Mühelos finden sie sich in den verschiedenen Ausdruckswelten zurecht, ob es sich um Kuba oder Berlin, Vietnam oder Italien handelt, ob der Stil Paul Dessau, Kurt Weill, Hanns Eisler oder Paul Hindemith entlehnt ist.

Von Heinrich Heine bis zu Bert Brecht und von Giuseppe Ungaretti bis Ho Tschi Minh spannt sich der Bogen der Gedichte, von Herbert Marcuse bis Hans Magnus Enzensberger, und von Paul Dessau zu Edward Bond reicht der Radius der Widmungen. Der Themenkreis umfaßt Unfälle in der Fabrik und Mißhandlungen im Gefängnis, Menschenjagd in Amerika und Verheerung in Vietnam; gemeinsam ist ihnen der Protest, und wie ein roter Faden schlängelt er sich durch den Zyklus, auf deutsch und englisch, kubanisch und italienisch, mit Militärmärschen und Kabarettnummern, Tangos und Paso doble, auf amerikanische und auf kubanische Art, mit Zitaten von hier und Anspielungen von dort, stets gut gezielt, stets ins Schwarze treffend, ohne einen einzigen Versager.

Bessere Interpreten als Paul Sperry und Rose Taylor, beide aus Amerika, hätte sich Henze nicht wünschen können. Zugegeben, Rose Taylor ist keine Lotte Lenya, und sie ist auch keine Carola Neher, aber das war vielleicht ganz gut so, denn sonst wäre die Übereinstimmung mit der Vorlage manchmal so groß geworden, daß sie eine Gefahr für Henzes Identität dargestellt hätte. Daß Zitate, Parodien, Anleihen und Collagen nicht mehr Verwirrung anstellten, verdankt man einzig und allein seinem stupenden Handwerk, das ihn dazu befähigte, Heterogenes zu verschmelzen und gefundene Objekte seiner Partitur einzuverleiben.

Trotz sozialistischer Ziele und Doktrinen wurde dem städtischen, elitären Publikum an dem Abend genau das geboten, was es gern hat, und die Spitzenleistungen der Künstler taten ein Übriges, um den Abend zu einem überwältigenden Erfolg zu gestalten.

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