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Kürzeste Wahlnacht

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Es war die allerkürzeste Wahlnacht — wie immer. Denn bekanntlich ist jede Wahlnacht kürzer als die letzte. Bald nach 17 Uhr war sie auch schon vorbei. Einst, als es noch keine Computer gab, und die, die es gab, noch nicht dafür verwendet wurden, mit hohem Aufwand auszurechnen, was wenige Stunden später ohnehin jeder wissen würde, begann um diese Zeit des Geplätscher der Dorfresultate ein von der Eintagsrolle als aktive Wähler für einen Abend (plus vier Jahre) in den Stand passiver Zuschauer versetztes Publikum auf das Kommende einzustimmen. Vergleichbar etwa den Werbe-Diapositiven im Kino an der Ecke.

Heute weiß bereits nach dem Auszählen eines knappen Fünftels aller Stimmen jedermann, wie die restlichen ausschauen werden — ein glattes Wunder, daß noch keine Diktatur auf die Idee gekommen ist, ihre Funktionäre für den repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt zu erklären, wählen zu lassen und sich solcherweise als demokratisch zu legitimieren (hier liegen, wie man sieht, noch ungeahnte Zukunftsmöglichkeiten!).

Von fast schockierender Kürze war an diesem S. Oktober 1975 die Spanne zwischen den fünf Stundenschlägen, welche die Sperre der letzten Wahllokale verkünden und damit das Signal für die Veröffentlichung erster Teilresultate geben — und dem Ende aller Hoffnung für die Verlierer. Während die Hochrechner von IBM wenig später bereits größte Mühe hatten, eine wenigstens etwas andere Mandatsverteilung als Professor Bruckmann zu prophezeien, klammerte sich ÖVP-Generalsekretär Bu-sek noch an Resultate aus den Städten, die zu diesem Zeitpunkt kaum erst zu tröpfeln begonnen hatten. Es war ein heldenhafter Versuch, dem mittlerweile auch des letzten Restes von Dramatik entkleideten Ereignis der Stimmenauszählung wenigstens ein Minimum an Spannung abzugewinnen.

Vergebens, vergebens. Nicht einmal jene Optimisten, die Wahlkarten nebst der ganzen neuen, komplizierten, im Endspurt angeblich Überra-.schungseffekte ermöglichenden

Wahlmathematik für eine Angelegenheit hielten, die nur zu dem Zwecke erfunden wurde, das demokratische Publikum ein paar Stündchen länger bei der Stange zu halten, fanden auch nur den geringsten Beweis für diese Theorie. Mit einem Wort: Die Hochrechnung hat den langwierigen Prozeß des Stimmenzählens uninter-resant gemacht. Als sie noch in den Kinderschuhen steckte und jeder gespannt auf die Richtigkeit harrte, war wenigstens die Hochrechnerei selbst interessant. Mittlerweile hat sie sich durch Überperfektion uninteressant gemacht. Jene sozialistischen Spaßvögel, die Bruno Kreisky bereits am 5. Oktober um sieben Uhr früh telephonisch zum Sieg gratulierten, waren Pioniere einer unausweichlichen Entwicklung.

Und darum war der Abend in der Hauptwahlbehörde einerseits so spannungslos — und auf der anderen Seite doch so unerhört interessant. Und dies ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Denn fürwahr: ein periodisch wiederkehrendes Ereignis änderte gründlich sein Gesicht. Und erst recht seine Funktion!

Einst strömte man, alle Wahlabende wieder, im Innenministerium zusammen, um näher am Geschehen zu sein. Um den Menschen an Flimmerkisten und Radios etwas voraus zu haben. Um die Spannung fühlen zu können. Um ein emotionell durchaus aufwühlendes Erlebnis mit anderen zu teilen. Wahlabende hatten einst ihre eigenen Kommunikationsgesetze. Die Spannung legte Schranken nieder. Ent-formalisierte Beziehungen. Schuf eine Ebene der Gemeinsamkeit — wie es eben Ereignisse mit starker emotioneller Besetzung so an sich haben.

Vergangenen Sonntag aber dauerte die Spannung kurz und der Abend lang. Der Rest wurde umfunktioniert. Zum großen Sehen und Gesehenwerden. Zu einer Orgie der kleinen Verkaufsgespräche und Selbstverkaufsgespräche am Rande. Zum Fechtboden der hinterhältigen Wortgefechte, der Schein- und der scheinbaren Scheingefechte. Zur Demonstration eigener Wichtigkeit, zum großen Hühnerhof — wer-mit-wem, wer-wen-wie, wer-wen-zuerst. Zum Schauplatz kleiner Hofhaltungen am Rande.

Vor allem aber wurde das Geschehen in der Hauptwahlbehörde ent-spontaneisiert, ritualisiert. Zu einem Präsentierteller für Sieger und Verlierer aufgeputzt. Voraussetzung dafür war die Verlegung der Hauptwahlbehörde vom Innenministerium in der Herrengasse in den Redouten-saal in der Hofburg.

In der Hauptwahlbehörde, wo einst selbst ein Wahlsieger ins Schwitzen und manche hochmögende Persönlichkeit ins Gedränge geriet, war für Abstand gesorgt. Bruno Kreisky, der kurz vorher im SPÖ-Hauptquartier in der Löwelstraße keineswegs davor zurückgescheut war, sich einem hautnahen Gedränge auszusetzen, wurde in der Hofburg wahrhaftig inszeniert. Ein Geviert unter Kronleuchtern und hoch angebrachten Scheinwerfern. An der einen Schmalseite die Schautafel mit den Wahlresultaten und die Tür,' durch welche der Wahlsieger in Begleitung der Unterlegenen schreiten würde. Die andere Schmalseite durch eine Schnur abgesperrt. Dahinter die misera plebs aller Journalisten ohne Mikrophon und Kamera, die, wenn schon nicht daheim, dann doch Vor den Farbfernsehern in Nebenräumen dem Geschehen wesentlich näher gewesen wären. An den Längsseiten Stufen für die Pressephotographen. Das Parkett selbst hatte freizubleiben — als „Schußfeld“ für die langbrennweitigen Fernsehkameras, die alle „Nahaufnahmen“ der Interviews aus respektvoller Entfernung machten.

Kurz vor dem Auftritt der Protagonisten bildeten die an diesem Abend nur wenig beachteten Fürsten und Herzöge, die Benya und Stariba-cher, die Busek und Weisz und so weiter, zwischen Parkett und Photographen ein letztere arg behinderndes, aber würdiges Spalier. Das Auftreten eines mit dem Stock auf den Boden klopfenden Mannes wurde schmerzlich vermißt. Die Tür öffnete sich ganz still und demokratisch. Die Starinterviewer des ORF, die schon geraume Zeit unruhig getänzelt und ihre Stecktüchlein überprüft, ihre Mikrophonschnüre in anmutige Schlingen gelegt und hinter angestrengt gefurchten Stirnen ihre Fragen memoriert hatten, schlössen einen Kreis um den (die) Erlauchten. Die Photographen suchten verzweifelt nach den Spezialflitern zur optischen Durchdringung im Weg stehender Rückenpartien.

Freilich, es mag sich mancher gefragt haben, nach wessen Maß nun tatsächlich diese Inszenierung geschneidert war, nach dem Mann im Scheinwerferlicht — oder nach dem Maß des Medienriesen, der, wie hier zu sehen war, Ereignisse, von.denen er berichtet, durchgreifend formt.

Wahlabende heute — die Show nach gelaufenem Rennen. Die ganze Welt als Bühne? Vorbei. Das ganze Land als Zuschauerraum.

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