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Digital In Arbeit

Leben in Bruchstücken

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„Ihre Sendung im Fernsehen war großartig!"., überfiel mich neulich meine Nachbarin, Frau Gurklitschka, im Stiegenhaus. „Allerdings habe ich nur einen Teil gesehen, wir sind später heimgekommen, wir waren im Kino. Auch Ihr Hörspiel im Radio hat uns sehr gut gefallen. Leider mußten wir nach dem ersten Teil weg, wir waren eingeladen."

Ich war gar nicht beleidigt. Ich habe es längst zur Kenntnis genommen, daß das Leben heute aus Teilaspekten besteht. Wenn man es als Puzzlespiel betrachtet, lassen sich immer nur Bruchstücke zusammenstellen.

Wir stehen in der Früh auf, machen einen Teil der vorgeschriebenen Morgengymnastik, waschen oder duschen uns ein bißchen, das Zähneputzen soll erst nach dem Frühstück nützlich seih, wenn man's bis dahin nicht vergißt. Wir trinken nur die Hälfte unseres Morgenkaffees aus, denn inzwischen müssen wir uns noch anziehen, nicht ganz, es genügt ein Teil dessen, was man früher getragen hat. Dann fahren wir von einem Stadtteil in den anderen zur Arbeit.

Im Büro putzen wir uns ein wenig die Fingernägel, und fliegen die Zeitung durch, nur die Schlagzeilen oder höchstens den Sportteil. Dann telefonieren wir ein bißchen beruflich, ein bißchen privat, und dann erledigen wir einen Teil unserer Arbeit. Bald gehen wir in die Kantine, wo wir einen Teil der Mahlzeit auf dem Teller stehen lassen.

Nachmittags fahren wir wieder nach Hause - da sagen wir schon „auf d'Nacht"; in Österreich ist der Abend gestrichen! - und gehen sogar einen Teil der Strecke zu Fuß, vom Parkplatz zur Wohnung. Soviel Spaziergang können wir an der frischen Özonluft gerade noch vertreten, um unsere Beine zu vertreten.

Daheim erziehen wir ein bißchen die Kinder, helfen ihnen bei einem Teil der Hausaufgaben, nehmen ein bißchen viel zu üppiges Abendessen ein, aber wir leben eh gesund, denn wir rauchen am Tag nicht einmal ein ganzes Päckchen, werfen wir doch manchmal die Zigarette mittendrin weg, um uns eine neue anzuzünden. Dann widmen wir uns zum Teil dem Fernsehprogramm, zum Teil dem Bier und den Salzstangerln.

Schließlich geben wir unserer Ehefrau einen Gutenachtkuß. Dabei bleibt's auch; wir befinden uns in einer anständigen Humoreske und nicht in einem Film.

Anschließend verbringen wir wenigstens einen Teil der Nacht mit Schlafen. Zuvor haben wir freilich unsere Tabletten genommen, jedoch nur einen Teil der verordneten, man hört soviel von Medikamentenmiß-brauch.

Und dann ist unser Leben plötzlich vorbei. Nicht ein bißchen, nicht nur ein Teil davon - das ganze.

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