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Im Strom der Zeit

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Es scheint keinem von uns möglich zu sein, abends den Raum, in dem wir gemeinsam essen, zu verlassen, um etwas in einem anderen Raum und für sich zu tun. Selbst dann nicht, wenn wir es uns fest vorgenommen haben. Es kommt eher vor, daß jemand von uns am Tisch einschläft, B. ausgenommen, und von den anderen zur Schlafenszeit geweckt werden muß, als daß er sich freiwillig zurückzieht Es ist nicht das Fernsehen, wir schalten den Apparat gar nicht jeden Tag ein.

Wir setzen alle große Hoffnungen in den Sommer. Inwieweit sie begründet sind, ist mir selber nicht klar. So als würde sich dann etwas verfestigen, das die Aussichten ein für allemal gut werden läßt, so als würde das wärmere Klima an unserer Lage wirklich etwas ändern. Wir reden oft von einem Fest, das ebenfalls im Sommer stattfinden soll.

Kaum daß die Obstbäume zu blühen begonnen haben, reißt ihnen der Wind die Blütenblätter wieder ab und weht sie vors Haus. Einen schreckvollen Augenblick lang glaube ich, daß es wieder zu schneien begonnen hat. Die Angst vor der Kälte hat sich auch in den letzten warmen Tagen nicht gelegt. Dabei haben wir bereits die ersten Maikäfer fliegen gesehen.

Ihr seid angewachsen, sagt der Besuch, ich frage mich, wie ihr das so macht, Tag für Tag an einem Tisch zu essen. Vielleicht erzählt ihr mir einmal, was euch dabei durch den Kopf geht. Nicht daß es mich was angeht, aber es würde mich interessieren, was sich dabei an Problemen ergibt. Unser Problem ist, sagt L., daß F. und ich keinen Fisch und keine Pilze essen, während P. wiederum keinen Käse mag.. So, so, sagt der Besuch, aber daran habe ich eigentlich nicht gedacht. Ich gebe allen ein Glaa Milch, drehe mich aber um, als sie es an die Lippen setzen, da mir Milch zuwider ist.

Jedes Jahr zu Ende der Sommersaison, etwa Mitte September, war Kirtag. Er dauerte drei Tage und machte allen großen Eindruck. Wenn man am ersten Kirtag-Tag in der Früh aufwachte, konnte man über die Fischerer Felder her schon die für diese Tage typischen Geräusche hören. Vor allem das Kreischen der ausrollbaren Papierpfeifen, das Getute der Blechtrompeten und das Schnalzen der Stöpselrevolver, auch Geschrei und Gelächter verbreiteten sich durchs ganze Tal, wie das Ratschen von Windrädern. Dieser Kirtag war auch in den umliegenden Ortschaften bekannt und berühmt, und wenn das Wetter auch nur halbwegs schön war, standen vor allen Buden Trauben von Menschen, die Rosen schössen, Nägel in ein Brett schlugen oder etwas in hölzerne Herzen brennen ließen.

Das Herzensammeln hatte sich zu einer Art Wettbewerb entwickelt, und ich habe Frauen und Mädchen gesehen, die kaum mehr den Kopf gerade halten konnten, so viele hatten sie um den Hals hängen. Die Zigeuner verkauften Teppiche, und vor den Blöcken mit türkischem Honig wurde gefächelt, damit man vor lauter Bienen auch noch etwas von dem Gelblichen, Zähen sehen konnte. Es wurde viel getrunken, und ich erinnere mich an Männer, die sich gegenseitig in der Scheibtruhe durch Gasthausküchen fuhren. An diesen Tagen hatten auch die wenigen Fremden, die noch im Ort waren, ihr Recht verloren, denn aus der Servili-tät war Aggression und aus der Freundlichkeit Spott geworden. Zu ernsthaften Zwischenfällen kam es meist nicht, doch es war etwas in der allgemeinen Stimmung, das sie jederzeit hätte provozieren können.

Das halbe Dorf war spätestens am Kirtag-Sonntag im Rausch, die Männer hatten übernächtige Gesichter, die Haut der Frauen wirkte fahl unter den frischen Dirndlblusen. Das Kindermädchen ging spätestens nach dem zweiten Rundgang verloren, und wir Kinder rotteten uns zu immer neuen Horden zusammen. Wir versuchten, allen Verwandten und Bekannten Geld aus der Tasche zu locken, das wir sofort in Genuß umsetzten. Manche von uns waren ebenso betrunken wie ihre Eltern, und wenn wir uns übergeben mußten, halfen wir einander, indem wir uns gegenseitig den Finger in den Mund steckten.

Am Kirtag-Montag flaute die Stimmung allgemein etwas ab, aber diejenigen, die nicht zur Arbeit mußten, fanden sich neuerdings zusammen und feierten um so wilder den Ausklang. Dienstag morgens trafen wir oft auf dem Schulweg die Spätheimkehrer, die sich blaß und unwirklich einen Pfad entlang des kaum von Autos befahrenen, aber doch recht breiten Wegs bahnten und laut vor sich hinredeten. Es ist vorgekommen, daß sich solch einer beim Nachhausegehen über das Brückengeländer beugte, um die Fische zu zählen und in den Angstbach fiel, ohne sich besonders dabei wehzutun. Aber auch unter den Frauen gab es viele, die bis zu drei Nächten durchhielten, und ihre Stimmen gellten von Wirtshaus zu Wirtshaus.

EX LIBRIS

Am kommenden Samstag, dem 6. September, werden in Ö 1 von 16.15 bis 17 Uhr folgende Bücher besprochen: Wolfgang Hohenleiterl Jörg Kölderer: Das Tiroler Fischereibuch Kaiser Maximilians; Ernst Haeussermann: Das Wiener Burgtheater; Roderich Menzel: Als Böhmen noch bei Österreich war; Karl Kraus: Monographie und Dokumentation; Irwin Shaw: Abend in By-zanz; Fritz Raddatz: Karl Marx; Walter Kappacher: Morgen; A. Vold-ben: Die großen Weissagungen über die Zukunft der Menschheit. (Änderungen vorbehalten.)

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