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Literatur gewordenes Fehlurteil

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Sie mußte, wie andere Autoren auch, beruflich ein Doppelleben führen. Neben ihrer erzählenden Prosa (Romane, Biographien), Übersetzungen englischer Dramen und eigenen Bühnenwerken agierte sie als Zei-tungskorrespondentin, zuletzt hauptsächlich für die FAZ. Deren Format bot Raum für breit argumentierende „Literarische Essays, Interpretationen, Rezensionen"; so der Untertitel des Nachlaßbandes „Das Haus des Dichters". Er wurde „zusammengestellt und herausgegeben von Hans A. Neunzig", doch betont er im Nachwort, daß er den Plan „noch mit Hilde Spiel besprechen" konnte. Sie war ja, bis zuletzt aktiv, nach langer Krankheit 1990 gestorben.

Der Sammelband besteht aus Buch-und Autorenbesprechungen sowie einem „Blick auf die Szene in Österreich/ ... und in England": Die gebürtige Wienerin war da wie dort beheimatet, in einem solchen Ausmaß, daß sie den zweiten Teil ihrer Autobiographie mit der Frage „Welche Welt ist meine Welt?" betitelte.

Alles ist kritisch gesehen und konzipiert, mit strikt persönlichem Geschmack urteilend, oft genug huldigend oder beinahe schmerzlich treffend. Es lag ihr nicht daran, allen recht zu geben, es kam ihr darauf an, ihre Sicht anschaulich darzustellen. Welterfahren, wie sie war, mußte sie manche Unbill erfahren und gibt zu, daß sie es denen übelnahm, die ihr Unannehmlichkeiten bereitet hatten. Nein, sie war nicht immer gerecht, doch wäre es ungerecht, ihr das zu verübeln.

Zwar hatte sie das Glück, aus der Heimat nicht fliehen zu müssen, weil sie die Katahatte und schon einige Jahre früher nach England ausgewandert war. Doch auch dort ging es ihr anfangs nicht immer gut, aber nicht so ungut, wie es ihr bei längerem Verweilen hierzulande ergangen wäre und zeitweise widerfahren ist, nach der späten Rückkehr in den sechziger Jahren. Daher ist sie bei literaturkritischen und literaturpolitischen Urteilen der Wahlheimat gegenüber milder als in der Bewertung ihres Geburts- und Sterbelandes.

Eklatantestes Vergleichsbeispiel: Der sogenannte Brecht-Boykott hierzulande und der Strafprozeß in England gegen den Verleger, der 1960 den 1927 geschriebenen Roman, Lady Chatterley" von D. H. Lawrence erstmals ungekürzt zu drucken wagte. Hilde Spiel übergeht in den zwei exemplarischen Fällen - freilich in subjektiv glänzender Diktion - den Unterschied: Der Roman von Lawrence war gerichtlich, Brecht bei uns überhaupt nicht verboten. Zwei Kritiker (Friedrich Torberg und Hans Weigel) hatten nach Ausbruch des Kalten Krieges geraten, Brecht vorderhand nicht aufzuführen: Er war (wiewohl nie Parteimitglied) dank vehementer Linkstendenz von Sympathisanten der extrem Linken propagandistisch zu mißbrauchen, und das wäre lebensgefährlich gewesen für unser politisch bedrohtes Land - nach dem kommunistischen Umbruch in der deutschen Ostzone, der Tschechoslowakei und in Ungarn, da wie dort putschartig durchgeführt. Hilde Spiel behauptet dazu, Wien sei der einzige Ort gewesen, „neben Francos Spanien und Salazars Portugal", wo „diese Sanktionen gegen Brecht stattfanden": Es gab nämlich keine bei uns. Die zwei Diktatoren konnten Verbote diktieren, die zwei österreichischen Rezensenten konnten nur warnen wegen der gefährdeten Freiheit Österreichs und meinen, das Genie Brecht könne ohne weiteres auf bessere Zeiten warten.

Politische Erwachsenheit?

Anders zu England. Dort blieb die ungekürzte Fassung des Romans jahrzehntelang behördlich verboten. Der dreitägige Sensationsprozeß gegen den renommierten Verlag Penguin Books stünde (so Hilde Spiel) nur „scheinbar" im Widerspruch zur „politischen Erwachsenheit" Englands, denn „die Anmaßung der Behörden" käme aus einem „allgemeinen Verantwortungsgefühl" und „strengern Moralempfinden". In Wien fürchteten zwei Publizisten für die Demokratie, und die Theaterdirektoren sahen das ein; die puritanische Justiz Englands bequemte sich erst zum Freispruch (von konservativen Blättern dafür kritisiert), nachdem unter den Zeugen auch „ein Teil der Geistlichkeit" deponierte, der Romancier habe „eine sakrale, keine obszöne Vorstellung vom Sexualakt" gegeben und sei daher nicht unmoralisch.

Man muß also Werturteile nicht bejahen; man muß nach der Lektüre aber bejahen, daß die kritischen Aussagen von Hilde Spiel ohne Zweifel den Rang von Literatur haben.

DAS HAUS DES DICHTERS. Von Hilde Spiel. Verlag Paul List, München 1992. 380 Seiten, öS 310,40.

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