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LUKIAN

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„Was haben Sie heute nacht geträumt?“ sagte der große Psychologe zu dem auf der Couch liegenden großen Staatsmann.

„Etwas Seltsames, aber es war sehr interessant“, sagte der große Staatsmann, „und zwar habe ich geträumt, daß der Oppositionschef eine Rede hält, die ich bis auf einige Einschränkungen gar nicht so schlecht gefunden habe.“

„Erzählen Sie“, sagte der große Analytiker, „was hat er gesagt?“

„Also“, sagte der große Staatsmann, „er hat gesagt: Liebe Wähler, diese verflixte Regierung macht es uns durch die Klugheit und Richtigkeit fast aller ihrer Entscheidungen ungeheuer schwer, überhaupt einen abweichenden Standpunkt zu finden, den man mit gutem Gewissen vertreten kann. Allerdings würden wir einige Dinge doch etwas anders machen als die Regierung. Zum Beispiel würden wir die Geburtenbeihilfe von 16.000 auf 16.230 Schilling hinaufsetzen. Dem Heeresminister, der es augenblicklich so schwer hat, würden wir das Verbleiben im Amte nicht ganz so sauer machen, und vielleicht auch das Gesundheits- wieder mit dem Sozialministerium vereinigen, wobei ich aber sagen muß, daß wir niemanden besseren dafür wüßten als die hervorragende Politikerin, die das Gesundheitsressort gegenwärtig zur Zufriedenheit der gesamten Nation verwaltet. Natürlich werden wir, sollten wir die Regierung übernehmen, die Bezüge der Minister und Abgeordneten kräftig anheben, während eine generelle Steuersenkung für die nächsten Jähre auch uns unmöglich erscheint. Ansonsten kann ich nur versprechen, daß wir versuchen würden, alles wenigstens halb so gut zu machen wie die jetzige Regierung, was ja auch schon eine sehr bedeutende Leistung darstellen würde. Mehr habe ich leider nicht gehört, denn da bin ich mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl aufgewacht.“

„Was haben Sie heute nacht geträumt?“ sagte der große Analytiker am nächsten Tag zu dem auf der Couch liegenden großen Staatsmann.

„Schon wieder so etwas Seltsames“, sagte dieser, „heute nacht bin ich in einer Kirche gesessen, auf der Kanzel steht ein Priester, sieht mich mit großen

Augen an und predigt: Liebe Gläubige, die Kirche ist sich ihrer Verpflichtung zur politischen Neutralität bewußt, daher kann ich euch natürlich nicht direkt empfehlen, die Regierungspartei zu wählen, aber eines möchte ich doch sagen. Es mag ja sein, daß wir dann und wann in der einen oder anderen Frage ein bisserl abweichende Standpunkte vertreten haben, aber das kann doch an unseren herzlichen Beziehungen nichts ändern. Ich weß gar nicht, warum die böse Opposition immer einen Keil zwischen uns und unsere verehrte Regierung treiben will. Schließlich macht diese Regierung alles andere so gut, daß es auf die gewissen paar kleinen Punkte doch wirklich nicht ankommt. Mehr habe ich leider nicht gehört, denn da bin ich mit einem wunderbaren Glücksgefühl aufgewacht.“

„Was haben Sie heute nacht geträumt?“ sagte der große Analytiker am nächsten Tag.

„Das war besonders komisch“, sagte der große Staatsmann, „ich war unsichtbar bei einer großen internationalen Konferenz zugegen, bei der Carter und Breschnjew um den Weltfrieden gerungen haben. Carter rief Breschnjew zu:,Lesen Sie, was-und er nannte meinen Namen! - darüber gesagt hat, bevor Sie über die Probleme des Nahen Ostens reden!', und Breschnjew donnerte zurück: ,Herr Carter, Sie haben Ihren - und er nannte meinen Namen! - ja nur halb gelesen und überhaupt nicht verstanden', worauf sie einander alles, was ich jemals über diese Weltecke gesagt habe, an den Kopf warfen. Sie haben noch ein paar andere internationale Probleme an Hand von Zitaten von mir abgehandelt. Sagen Sie, was haben diese Träume zu bedeuten?“

,Jm Traum spricht unser eigenes Unbewußtes zu uns“, sagte der große Psychologe, „aber seine Botschaften müssen wir selbst entschlüsseln. Was fallt Ihnen an Ihren Träumen auf?“

„Vor allem“, sagte der große Staatsmann, „die außerordentliche Vernunft, mit der alle diese Leute in meinen Träumen sprechen. Sie sagen lauter so goldrichtige, grundwahre Sachen. Naja, kein Wunder, es sind ja auch meine Träume. Ich glaube, ich hab’s! Alpträume sind es keine, denn sie sind ja angenehm, für gewöhnliche Wunschträume wiederum sind die Dinge, die ich träume, irgendwie zu selbstverständlich. Ich glaube, ich sehe im Traum in die Zukunft!“

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