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Nie mehr wieder
Nie mehr wieder werde ich einem Menschen helfen. Niemals wieder werde ich mich durch meine Erziehung zu unüberlegter Hilfsbereitschaft verführen lassen. Sollen die Mühseligen und die Beladenen doch sehen, wie sie mit ihrer Mühe selig und ihre Last los werden. Mir reicht mein eigenes Mißgeschick, das ich mir täglich selbst verursache.
Wie aus mir - Sie kennen mich ja sicherlich als eines der hellsten Lichter im vorweihnachtlichen Dunkel! - ein selbstsüchtiger Riese wurde? Lesen Sie selbst!
Tante Luise, die Erbträchtige, hatte ihren obligaten Weihnachtsurlaub bei uns verbracht und war wie üblich, statt der angedrohten „paar" Tage drei volle Wochen geblieben. Also hatte sie ein Anrecht auf Transport ihrer Person und ihrer nicht unbeträchtlichen Bagage erworben. Ich füllte das sparefrohe Familienauto mit Tante Luises Gepäckstücken und den Weihnachtsgeschenken, die wir uns zukunftsorientiert vom Munde abgespart hatten, bis zum Achsbruch und pilotierte das schwerfällige Gefährt verwegen von Verkehrschaos zu Verkehrschaos bis ich in allerletzter Minute vor Abfahrt den Zug erreichte.
Natürlich kann eine Erbtante ihre Gepäckstücke nicht selbst im Abteil verstauen, noch findet sie überhaupt den frühzeitig reservierten Fensterplatz in Fahrtrichtung im Nichtraucherabteil nahe dem Speisewagen.
Also zwängt sich der erborientierte Familienvater mit Gepäckstücken sonder Zahl durch Trauben von anderen Familienvätern, teilweise auch schon nachdrängenden Erbtanten nebst schmeichelnden Nichten, säuselnden Neffen und abschiedsfrohen Familienmüttern.
Natürlich reichte im Falle Tante Luises ein einziger Gang nicht im geringsten. Erst beim vorletzten folgte mir die angesichts der chaotischen Bahnverhältnisse völlig gestreßte potentielle Familienretterin, beim letzten schließlich setzte sich der Zug in Bewegung.
Meine durch seelische und körperliche Überanstrengung verständlicherweise eher lahmen Fluchtversuche endeten an einem quergestellten, bis oben mit elektronischem Spielzeug vollgerammelten Kinderwagen.
So war ich also im Fernschnellzug unterwegs nach Sankt Pölten. Die schadenfrohe Belehrung der Tante wäre ja noch zu ertragen gewesen, zumal sie im Chor ähnlicher Ermahnungen fast unterging.
Schließlich gibt es auf der Welt noch mehrere Erbtanten, die die Weihnachten bei den künftigen Erben verbringen. Unangenehmer war da schon die Auseinandersetzung mit dem Schaffner, mit dem ich mich gerade noch auf das Nachlösen einer Fahrkarte 1. Klasse einigen konnte, um Schlimmerem zu entgehen.
Vollends trostlos geriet der endlose Aufenthalt auf dem Hauptbahnhof in Sankt Pölten, auf dem allerdings - das sei zu seiner Entschuldigung gesagt - nicht mit meinem Erscheinen gerechnet worden war. Peinlich und kostspielig war auch das Lösen einer Schnellzugsfahrkarte zurück nach
Wien, wo ich gerade noch rechtzeitig eintraf, um die hintere Stoßstange des Familiengefährtes hinter einer Hausfassade verschwinden zu sehen. Es war huckepack auf dem Weg zu einem äußerst gebührenpflichtigen Abschleppplatz.
Als ich nach weiß Gott wie vielen Stunden endlich wieder zu Hause ankam und meine Geschichte vortrug, schnupperte Ehefrau Ida erst einmal ausgiebig an mir und meiner Bekleidung herum, und, als sie keinen Geruch von Alkohol, Nikotin und Zwiebelrostbraten feststellte, verdächtigte sie mich kreischend einer verborgenenLiebschaft: „Und das zur Weihnachtszeit!"
Gottseidank konnte ich durch einige Aufmerksamkeiten ihren Anwalt noch zum Einlenken bewegen. Eine Scheidung kam aufgrund der total verwickelten Eigentumsverhältnisse an unserem bescheidenen Familienvermögen nicht in Betracht.
Als wir durch zahlreiche Nebentätigkeiten, Überstunden -und einen mäßigen Lottogewinn einen Teil des entstandenen Schadens wieder ausgeglichen hatten, beschlossen wir einmütig, alle Maßnahmen zur Erbschaftssicherung einzustellen. Und außerdem jedwede Hilfestellung für wen auch immer f ürderhin hintanzuhalten. Wir können sie uns einfach nicht leisten.
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