6941474-1983_28_16.jpg
Digital In Arbeit

Pan-Ku-Pe-Do

Werbung
Werbung
Werbung

Ich liebe Bahnfahrten. Vor allem die langen Bahnfahrten, in einem Coupe der besonders weichgepolsterten Klasse, in Fahrtrichtung und — allein. Der sanfte Schienenstoß schüttelt behutsam Tagesärger aus meinen Gedanken. Dieselben entfernen sich vom Ärger noch immer nicht überwiesener Honorare und schwingen sich auf zu Höhen lyrischer Schichtenwolken. Ideen zu bewegenden mehrbändigen Romanen, zu ergreifenden Dramen, zu lyrischen Zyklen fliegen mir mit einer Regelmäßigkeit zu wie die Masten der Oberleitung an meinem Abteilfenster vorbei. Ich schwimme in einem poetischen Meer, da ist Bewegung und Gewo- ge, Schwingen und Singen, Eintauchen und Auftauchen …

Und dann tauchen sie auf! „Ist hier noch Platz?“, wiegt mich die freundliche Großmutter in Sicherheit, „Schön, daß in dem überfüllten Zug noch ein Plätzchen frei ist.“ Ich erwäge das Vortäuschen von Reservierungen, unterdrücke ein „Leider“ und füge mich in das gleichermaßen Befürchtete wie Unausweichliche: Hinter der fülligen Omi hat sich eine Großfamilie verborgen, die offensichtlich entschlossen ist, ihren gesamten Hausrat, ergänzt um Haustiere und Hausfreunde mehrerer Generationen per Bahn — beklagenswerte Opfer agressi- ver Bahnwerbung! — an einen allzuweit entfernten Urlaubsort zu verfrachten.

Die Folgen sind voraussehbar, so konzentrierte ich mich auf die Abwehr manch körperlicher Bedrohung: „Wollen’s auch an Scho- kolad’?“, auf die Verteidigung meiner Intimsphäre „Fahr’n S’ auch nach Billerbach in Urlaub?“, auf die Rettung meiner existentiellen Unversehrtheit „Jessasna, jetzt ist der schwere Koffer oba- gf alln! Ist Ihnen was passiert, Herr Doktor?“.

Der Doktor versöhnt, aber er rettet die zeitgenössische Literatur nimmermehr! Der Roman bleibt ungeschrieben, das Opernlibretto — ich bitte die Komponisten um Verständnis — bleibt Idee, die Schauspiel-Trilogie bleibt szenisches Fragment, vom Sonet- tenkranz entsteht nicht mehr als die erste Zeile. Immerhin die des Meistersonetts, doch was soll’s.

Solchermaßen litten ich und die zeitgenössische Literatur jahrelang. Bis ich auf der Flucht aus einem der überfüllten Coupes im Speisewagen Li-Lu-Wan, meinen, nein, unseren Retter kennenlernte. Er war, ganz im Gegensatz zu mir, in den Speisewagen gekommen, weil er sich in seinem, von ihm alleine besetzten Abteil einsam fühlte.

Hatte er das Coupe komplett gemietet, den Schaffner durch asiatische Überredungskunst, die Zugführung durch finanzielle Zuwendungen gefügig gemacht? Mitnichten. Er hatte praktisch angewendet, was er in langen Monsunregennächten in Nordin dien auf mehrtägigen Bahnreisen erfunden hatte: „Pan-Ku-Pe-Do“ — die Hohe Kunst der Bahncoupeverteidigung.

Ich erzählte ihm meine jüngsten Erlebnisse, und er ließ sich von meinem Elend und der akuten Bedrohung der zeitgenössischen Literatur rühren. Er lehrte mich Pan-Ku-Pe-Do. Die Griffe und Kniffe, die Drehungen und Wendungen, die Schwünge und Schübe von Pan-Ku-Pe-Do sind unerschöpflich und für den Pan-Ku- Pe-Goi, den Nichteingeweihten, wohl auch unübersichtlich.

Dies aber, Freunde und künftige Jünger, als erster Hinweis auf den Weg ins weite Land alleinbesetzter Eisenbahnabteile: Betretet ein leeres Abteil, teilt Eure Bagage in viele Einzelstücke, belegt alle Plätze und Netze, tretet sodann in den Gang zurück, öffnet das gegenüberliegende Fenster und beobachtet interessiert, wohl auch suchend, das Treiben auf dem Bahnsteig, mit Euren Körpern den Durchgang versperrend.

Naht eine platzsuchende Person ohne, vor allem aber eine solche mit Gepäck und Begleitung, tretet nach Schließen des Fensters zurück in Euer Abteil, dessen Eingang körperlich versperrend, blickt den Herannahenden bohrend zwischen die Augen und weist ihnen mit den eigenen den

Weg vorbei. Jeder gut erzogene Eisenbahnpassagier wird nicht wagen, in Euer Coupe hineinzusehen, geschweige denn einzudringen. Er wird züchtig die Augen senken, eine höfliches „Danke“ für die Freigabe des Weges hauchen und sich weiter quälen, entfernteren und besetzteren Abteilen zu.

Es gibt, das sei nicht verschwiegen, aber auch weniger höfliche Fensterplatzsucher. Hier reicht die einfache Verteidigung nicht mehr aus, hier sind die höheren Grade des Pan-Ku-Pe-Do angemessen. Das Arsenal ist groß und reich bestückt; auch darauf, Freunde und künftige Schüler, ein erster Hinweis: Vervielfacht den Eindruck, den Euer Körper im Abteil macht, durch heftiges, nervöses Umräumen der auf die einzelnen Sitze und Netze verteilten Bestandteile Eurer Habe.

öffnet und verschließt Eure Gepäckstücke mit deutlich hörbaren Geräuschen, packt Schuhe aus Plastiktüten in die Reisetaschen, entstaut und verstaut Lebensmittel, insbesondere solche mit ausgeprägtem Haut-gout und — angesichts widerstandsfähiger Eindringliche — beginnt. Eure Bekleidung zu wechseln! Beachtet dabei die Dosierung! Nahen feingliedrige, aber schon etwas ältliche Mädchen mit arretiertem Blick, wird vielleicht schon das Wechseln der Oberbekleidung den gewünschten Effekt erzielen.

Jüngere Fernreisende kann erfahrungsgemäß der Austausch von Oberbekleidung kaum mehr erschrecken, vielleicht hilft hier der Wechsel von Schuhen und Strümpfen, solchen, denen man eine längere Tragedauer deutlich anmerkt.

Ihr erkennt: Pan-Ku-Pe-Do hat viele Facetten. Li-Lu-Wan hat sie mich gelehrt. Ich habe geübt, und nun sitzt bei mir jeder „Coup de coupe“! Meine Liebe zu langen Bahnfahrten erfüllt sich wieder, die zeitgenössische Literatur ist gerettet. Und sonst geht es mir in letzter Zeit auch recht gut. Wenn Sie sich für Pan-Ku-Pe-Do-Kur- se in meiner Privatschule interessieren, müssen sie sich schnell an- meldėri. Im fünftnächsten Kurs sind noch zwei Plätze frei. Die anderen Kurse sind längst ausgebucht.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung