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SALT und Brot

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Von Leonid Breschnjew empfangen zu werden und mit ihm zu verhandeln, mag für Henry Kissinger nicht den gleichen inneren Stellenwert besitzen wie die Gespräche mit Mao Tse-tung. War doch bei dem greisen Chinesenführer eine intellektuelle Neugier zu spüren, die aus den Bildern dieser historischen Begegnung deutlich abzulesen war. Der geistige Vater einer neuen Kriegs- und Revolutionstheorie anerkannte damit den Theoretiker der nuklearen Weltlehre.

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Von Leonid Breschnjew empfangen zu werden und mit ihm zu verhandeln, mag für Henry Kissinger nicht den gleichen inneren Stellenwert besitzen wie die Gespräche mit Mao Tse-tung. War doch bei dem greisen Chinesenführer eine intellektuelle Neugier zu spüren, die aus den Bildern dieser historischen Begegnung deutlich abzulesen war. Der geistige Vater einer neuen Kriegs- und Revolutionstheorie anerkannte damit den Theoretiker der nuklearen Weltlehre.

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Nun hat Henry Kissinger mit seiner Antlantikcharta ein neues Zeit-dpkument geschaffen.

Bei Leonid Breschnjew ist es sicher nicht intellektuelle Neugier, die Gespräche mit Kissinger persönlich zu führen. Ohne Zweifel auch nicht Angst und Mißtrauen in seine engsten außenpolitischen Berater, von denen Außenminister Gromyko erst vor knapp zehn Tagen eine politische Aufwertung erfuhr.

Die Runde in der Datscha des Sowjetführers signalisiert einfach die enorme Bedeutung, die Breschnjew seinem Amerikatrip beimißt. Auch scheint es, daß er eher bereit ist, aus s Kissingers Atlantikcharta präzisere Schlüsse zu ziehen, als Amerikas westeuropäische Partner, die damit angesprochen werden sollten.

Im Kreml verhallte offenbar der dringliche Appell auch nicht und wurde auch nicht die Drohung an die Adresse Europas und Japans überhört, daß dies der letzte Versuch Washingtons sei, auf die partnerschaftliche Karte zu setzen. Was für Tokio und Brüssel als weiche Drohung bestimmt war, wurde in Moskau deutlich als Aufforderung empfunden.

Wird 1973, obwohl von beiden Supermächten als das Jahr Europas angeboten, ein Jahr der Renaissance der Zweier-Hegemonie?

In der Tat spricht manches dafür. Die beiden Hauptkrisenherde, der

Nahe Osten und Indochina, waren und sind für Washington nur mit dem Einvernehmen Moskaus zu stabilisieren. Kissinger kann das Debakel, das er mit seinen Pariser Vereinbarungen bisher erlitten hat, nur im direkten Kontakt mit der Sowjetführung abschwächen.

Wenngleich mit deutlich verschobenen Akzenten, sind beide Mächte daran interessiert, die Irrationalität, die in der Politik der arabischen Führer gegenwärtig dominiert, auszuschalten. Moskau deshalb, weil es keine dritte Niederlage im Nahen Osten erleiden will, die USA, weil ihre Erdölinteressen immer mehr zu einem integralen Bestandteil der Weltpolitik werden. Was dem Kreml noch vor einiger Zeit verlockend erschien — nämlich den größten Konkurrenten die Erdölhähne in der arabischen Welt zuzudrehen — ist deutlich zurückgestellt worden.

Daß diese Überlegungen von den Eckwerten der beiden Wirtschaftssysteme beeinflußt sind, steht außer Frage. Der landwirtschaftlichen Überproduktion des amerikanischen Farmwesens muß die zu erwartende Energielücke gegenübergestellt v/erden. Die energiereiche Sowjetunion ihrerseits geriet in den beiden letzten Jahren beängstigend in die Abhängigkeit amerikanischer Weizenlieferungen. Was liegt näher, als diese handelspolitischen Zwänge durch eine weitreichende Vereinbarung aufzufächern?

Auf diesem Feld zeigt allerdings das Sowjetreich noch immer jenes abschreckende Bild aus der Ära des kalten Krieges. Selbst Meldungen, wonach bereits ein Drittel der größten Landarmee der Welt an der Grenze zu China aufmarschiert ist, vermögen nicht über den Tatbestand hinwegzutäuschen, daß der Militärkoloß Sowjetunion im europäischen Bereich nichts an Gewicht verloren hat.

Dieser aller Ratio entgegenstehende Rüstungsaufbau der Kreml-herren muß den Strategen Kissinger also gleichfall beschäftigen. Trotz aller Mahnungen, man könne in den Truppenabbaugesprächen nur aus einer Position der Stärke heraus ein annehmbares Ergebnis erzielen, läßt ja die Verteidigungsbereitschaft der westeuropäischen Staaten systematisch nach.

Die Zeit ist wie schon so oft die Meistbegünstigungsklausel des Ostens. SALT und MBFR sehen nun den Westen im Zugzwang. Ob Kissinger das Bauernopfer Ungarn, das die NATO für einen Fortgang der Wiener Gespräche anscheinend preiszugeben bereit ist, durch einen anderen Zug retten möchte? Seine Kon-.taktaufnahme mit dem amerikanischen Delegationschef bei den Genfer SAL-Gesprächen deutet darauf hin, daß man im'Weißen Haus über den Stillstand in der Schweizer Konferenzstadt besorgt ist.

Die Frage bleibt, ob eine neu aufkommende Angst vor dem östlichen Giganten die amerikanische Politik beherrscht oder ob man glaubt, . die Chancen in einem Handel mit dem Kreml, über die Köpfe der Teilnehmer in der restlichen Weltrunde hinweg, zu erkennen.

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