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Es kommt nicht häufig vor, daß ein Geschichtsprofessor in eine führende politische Stellung gelangt, in der er praktisch anwenden kann, was er wissenschaftlich gelehrt hat. Die Ernennung Henry Kissingers zum Chef des amerikanischen Staatsdepartements ist eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, daß ein Historiker kaum eine Chance hat, sich als Politiker betätigen zu können.

Nun ist es eher selten, daß die Kontinuität einer Staatspolitik, die auf bestimmten Interessen, Notwendigkeiten und Verbindlichkeiten beruht, radikal unterbrochen wird. Wohl kommt je nach dem innenpolitischen Kräfteverhältnis bald die eine, bald eine andere Tendenz stärker zum Zuge; eine solche kann auch auf die Außenpolitik der Regierung einwirken. Aber die Gesetzgebung, die großen Körperschaften der Verwaltung, der Diplomatie, der Armee, ferner der Finanzhaushalt und die Staatswirt-schait, endlich außenpolitische Verpflichtungen und diplomatische Rücksichten sorgen dafür, daß zu große Abweichungen vom Kurs kaum möglich sind.

Hat Kissinger, der zweifellos nicht nur der erste Mann, sondern auch der führende Kopf der Administration Nixon ist, aus seinen Ein- und Ansichten als hervorragender Kenner der Geschichte die praktischen politischen Konsequenzen ziehen können? In einem bestimmten Fall ist Ihm dies zweifellos gelungen. Er hatte in seinem Buch „The Troubled Partnership“ 1966 das State Departement scharf für seine Politik kritisiert, die die Sowjetunion und die Volksrepublik China unterschiedslos als „kommunistischen Block“ betrachtete und bekämpfte. Kissinger wies auf den Vorteil hin, den Amerika aus dem Konflikt zwischen Moskau und Peking ziehen könne. Er war auch einer der wenigen einflußreichen Amerikaner, die die Politik de Gaulles billigten, sowohl was die Anerkennung Pekings als auch was die Entspannung gegenüber Moskau betraf (weshalb George Ball ihm „amerikanischen Gaullismus“ vorwirft).

Eine bemerkenswerte Abweichung von der Kritik, die Kissinger in dem erwähnten Buch an der amerikanischen Atlantikpolitik geübt hat, ist sein Vorschlag an die europäischen Verbündeten, eine „Neue Charta“ anzunehmen. Einwendungen gegen die Nixon-Kissinger-Politik, sowohl was die Vereinbarungen mit Moskau als auch den Vorschlag einer neuen Atlantikcharta betrifft, sind denn auch in Europa nicht ausgeblieben.

Wohl der schwächste Punkt in den Bemühungen des zum Außenminister aufgerückten Geschichtsprofessors ist der absolute Primat, den er der Außenpolitik einräumt; er gab in einer Schrift zu, daß Außenpolitik kaum für die Unzufriedenheit der Jugend eine Hilfe sein könne. Inzwischen hat die Watergate-Affäre die Handlungsfähigkeit des Präsidenten gelähmt, und Kissinger verfehlte nicht, auf die Nachteile hinzuweisen, die diese innenpolitische Schwächung der Regierung für ihre Außenpolitik haben kann. Aber jede Außen-

Politik muß auf die Innenpolitik abgestimmt sein, wenn sie Störungen vermeiden will. Nixons Ansehen hat auch im Ausland Schaden gelitten, da man nicht weiß, was sich in Amerika noch ereignen kann. Doch ebensogut könnten früher oder später innenpolitische Vorgänge in Japan, in Westeuropa oder in einer der kommunistischen Großmächte Kissingers Konzept eines Gleichgewichts von fünf als gleichwertig betrachteten Machtzentren in Frage stellen.

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