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Henry am Ende?

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Zum erstenmal in ihrer Geschichte sind die Russen dank einer ratlos nachgiebigen, immer kompromißbereiten amerikanischen Politik tonangebende Weltmacht. Deprimierend genug, daß Washington dagegen im Augenblick so gut wie gar nichts tun kann. Ergebnissen der Meinungsforschung zufolge sind 75 Prozent der politisch denkenden Amerikaner der Ansicht, man müsse die rote Supermacht in Schach halten und bändigen Die Kritik trifft vorwiegend Staatssekretär Henry Kissinger, der noch vor wenigen Monaten als „amerikanischer Metternich“ apostrophiert wurde. Nun wird ihm die Schuld an der unaufhaltsamen Sowjetexpansion in die Schuhe geschoben und laut „Economist“ werfen ihm 25 Prozent der Amerikaner besonders drei Irrtümer vor: • Es sei seine falsche Annahme gewesen, daß es möglich sei, die UdSSR in ein Netz von Agreements einzufangen Die „Gulliverisierungs-Theorie“ Kissingers habe ihr Ziel verfehlt, wie Kaiser Wilhelms und Hitlers „Gulliverisations-Versuche“ in den Jahren 1914 und 1939. Angola sei eine eiskalte Dusche für alle Kissinger-Anhänger gewesen, habe aber nichts in den USA geändert, weil die amerikanische Geschäftswelt die 150 verschiedenen russisch-amerikanischen Gemeinschaftsprojekte höher einschätzte als Angola. Dies wurde übrigens von Kissingers Buropareferenten, Arthur Hartmann, unmißverständlich zugegeben.

• Die „Detentapolitik“ halbe die Russen nicht zu einer aufrichtigen Balancepolitik in Europa bewogen. Erst die Entwicklung in Italien habe Kissinger alarmiert; jetzt befürchte er, daß ein Erfolg der Kommunisten eine ultrarote Lawine in Bewegung setzen wende, die auch Frankreich bald unter sich begraben könnte. Eine andere naive Illusion sei es gewesen, daß die Anerkennung der permanenten Sowjetherrschaft über Osteuropa auch die Anerkennung eines nichtkommunistisohen Westeuropa seitens der Russen garantieren werde, denn schon jetzt wendeten die Russen mit scheinheiligem Augenschlag ein, sie könnten die „unabhängigen westeuropäischen kommunistischen Parteien“ nicht beeinflussen

• Der dritte Vorwurf der amerikanischen Öffentlichkeit gegen Kissinger lautet, sein alter Schwung sei dahin; er sei mutlos geworden, er wirke müde und verbraucht. Der Kongreß habe die Fortführung seiner zentralisierten Außenpolitik vereitelt und mit ständigen Einmischungen eine beispiellose Konfusion geschaffen. Dazu komme die jegliche Außenpolitik hemmende, in diesem Jahre fällige Präsiidenitschaftswahl.

Präsidentschaftskandidaten kritisieren in Amerika vor Wahlen alles, aber sie schweigen sich darüber aus, was für eine Politik sie selbst, im vorliegenden Falle gegenüber Osteuropa, betreiben würden Der einst bewunderte Magier Kissinger wird derzeit von allen Seiten her angegriffen, und dennoch: die letzten Meinungsumfragen haben ergeben, daß die amerikanische Öffentlichkeit Kissinger auch heute noch für einen der besten Staatssekretäre hält, die Amerika jemals hatte. Nixon, dessen Außenpolitik Kissinger führte, wird übrigens in weiten Kreisen ebenfalls als einer der besten Präsidenten dieses Jahrhunderts bezeichnet. Kisinger wurde zur Zeilscheibe der Kritiker erst, als er anläßlich des Watergate-Skandals Nixon öffentlich in Schutz nahm. Im übrigen aber besteht kein Zweifel daran, daß Kissingers Karrieresand-uhr ausgelaufen ist und daß er in der kommenden Administration keine Rolle mehr spielen wind.

Die außenpolitische Bilanz? Kissinger stellte Ohina und das Mittel-ost-Prdblem in den Brennpunkt seiner Außenpolitik. Er verhalf China zur Durchbrechung seiner außenpolitischen Isolation. Peking konnte seither die diplomatischen Beziehungen mit Westeuropa und Japan ausbauen, konnte daher auch Moskau ideologisch und strategisch Widerstand leisten. Außerdem haben die Sowjets zwar vor Jahrzehnten im Mittleren Osten Fuß gefaßt, doch ist dort Washington heute die führende Macht. (Soweit die Anhänger Kissingers.)

Ein Kommentar des „Daily Telegraph“ hingegen behauptet, daß der opponierende Kongreß und Europas Schwäche es gewesen sei, was Kissinger gelähmt habe. Das konservative Blatt versucht, Kissinger zu unterstützen, indem es von der „wachsenden politischen und militärischen Verwundlbarkeit Europas“ schreibt und folgert: „Die Zeit arbeitet gegen den Westen“. Jeder amerikanische Präsident und Staatssekretär müsse daher „die Risiken ■ Vermindern“ und „ihre Verbündeten müßten ihnen dazu die Hand reichen“. Aber tut das Westeuropa? Besorgte Beobachter in den Vereinigten Staaten fragen sich, wann Westeuropa endlich im Hinblick auf seine Verteidigung und die Weltpolitik fester Fuß fassen wird.

Der westdeutsche Verteidigungsminister Leber sprach es naöh dem Fall Indochinas offen aus: „Was haben wir, die Westeuropäer, für Vietnam getan? Wir haben nur Amerika kritisiert, weil es sich in den indochinesischen Streit eingemischt hat.“

Immer mehr Amerikaner fragen jetzt ihrerseits: „Was haben die Europäer für Angola getan?“ Kissingers Hände waren durch den Kongreß mit dem Argument gebunden, Angola sei strategisch für die USA unwichtig. Aber für Westeuropa ist die angolesisöhe Küste lebenswichtig. Ein energischer europäischer Protest, vor allem eine westdeutsche Aktion, hätte den amerikanischen Kongreß beeinflussen können.

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