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Schädigen Behinderte das Volks vermögen?

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Im Jahre 1941 erschien in einem Leipziger Verlag unter dem Titel „Deutschlands Wiederaufbau in Zahlen“ ein Heft für den Rechenunterricht, in dem es eine Reihe damals gar nicht grotesk anmutender Rechenbeispiele gab: So wurden die Schüler aufgefordert, auszurechen, wie viele „erbgesunde Familien“ bei 60 Reichsmark durchschnittlicher Monatsmiete mit jenem Betrag untergebracht werden könnten (auf 1000 abgerundet), den der jährliche Aufwand des Staates für die Sorge um Geisteskranke, Taube, Blinde und Krüppel verschlingt Was hier suggeriert wurde, ist klar.

Was aber soll dieses grauenhafte Rechenbeispiel im Jahre 1977? Das haben wir doch längst hinter uns, bewältigt, Rückfall unmöglich!

Seien wir nicht so sicher. Im Heft Nummer 8 (August 1977) der sozialistischen Zeitschrift „ZUKUNFT“ findet sich ein Bericht über die Möglichkeit der Früherkennung von Mißbildungen bei ungeborenen Kindern. Durch die Untersuchung des Fruchtwassers könne festgestellt werden, heißt es darin, ob eine Gefahr für eine angeborene Behinderung oder Mißbildung des Kindes besteht.

Experten ist diese Möglichkeit nicht neu. Neu und erschütternd ist die Konsequenz, die der Verfasser des „ZUKUNFT“-Kommentars zieht: „.. i Die Kosten (für die Untersuchung und Abtreibung, Anm. d. Verf.) sind zweifellos geringer als die Betreuungskosten für die schwer mißgebildeten Kinder, die sonst zur Welt kämen…“

Eine furchterregende Zukunft für- wahr, wenn der Mensch als Produktionsfaktor gesehen wird, wenn mit ihm eine Kosten-Nutzen-Rechnung angestellt wird. Damit geht natürlich der soziale Aspekt, der Gedanke der Menschlichkeit verloren.

Es steht außer Zweifel, daß die Tatsache, ein möglicherweise behindertes Kind zur Welt zu bringen, eine große Belastung darstellt. Manche Eltern brauchen hier sehr viel Hilfe, es ist aber völlig unzulässig, eine solche, ohnehin belastete Mutter auch noch unter Pression zu stellen und ihr vorzuhalten, daß sie das Volksvermögen schädige.

Was empfiehlt der Autor des „ZU- KUNFT'-Kommentars für jene Fälle, wo die Behinderung oder Mißbildung erst bei der Geburt offenbar werden, oder bei der Geburt eintreten, oder auch nachher? Das alles gibt es ja, wir haben ja sehr viele behinderte Menschen in unserer Mitte. Welche Behandlung käme denn da in Frage, für welche die Kosten „zweifellos geringer als die Betreuungskosten für die schwer mißgebildeten Kinder“ wären?

Welche andere Behandlung als die Tötung?

Wenn in der Auseinandersetzung um die Fristenlösung anläßlich des Volksbegehrens zum Schutz des Lebens Warnungen erhoben wurden, daß das geltende Recht unmenschlich sei und viele Gefahren in sich berge, wurden diese Warnungen entrüstet als völlig grundlose und bösartige Unterstellung seitens der Befürworter der Fristenlösung zurückgewiesen. Das eingangs zitierte Rechenbeispiel wurde nicht angeführt, um alte Wunden aufzureißen, sondern um als Warnung zu dienen, damit nicht noch mehr neue geschlagen werden.

An den Verfechtern des neuen Strafrechtes, an jenen, die die Fristenlösung und die - beinahe jeden Eingriff rechtfertigende - Indikationenlösung im Anschluß an die Dreimonatsfrist für so überaus human und fortschrittlich halten, liegt es, sich von der Überlegung, wie sie in der „ZUKUNFT* angestellt wird, klar und eindeutig zu distanzieren.

10. Warum erbfranter HadjrouĄs uerhütet werben muß.

a) (Erbminberwertige $amilien haben erfahrungsgemäß eine höhere Kinbet» jaljl als erbgefunbe. — nehmen wir an, es gäbe irt einem £anbe gleihiel erbgefunbe (A) unb erbminberwertige (B) (Ehepaare, oon benen bie (Bruppe A öurdjfdjnittlidj je 3, bie öruppe B öurdjfdjmttlid} je 5 jur fjeirat gelangenbe Kinber hätte. Die A«Kinber würben wieberum burchfchnittlich je 3, bie B=Kinber je 5 Hafommen haben. 3n welchem Derhältnis würben bie Hachtommen bet beiben (Bruppen nach 100 3ahren (= 3 (Befchlechter« folgen), nach 200 3ahren ftehen?

b) Der jährliche flufroanb bes Staates für einen öeiftesfranten beträgt im Durch?Änitt 766 JUl-, ein Sauber ober Blinber toftet 615 fRJC, ein Krüppel 600 JUt. 3n gefchloffenen flnftalten werben auf Staatstoften oerforgt: 167 000 (Beiftestranle, 8300 Saube unb Blinbe, 20 600 Krüppel. Wieoiel IRill. JlJt foften biefe (Bebrechlichen jährlich? XDieniel erbgefunbe §amilien fönnten bei 60 fRJl burchfchnittlidjer Blonatsmiete für biefe Summe untergebracht werben (auf 1000 abrunben)?

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