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So sind die Ungarn

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Ein ungarischer Tourist betritt in London ein Hutgeschäft. Eine smarte Kopfbedeckung hat es ihm angetan, er kann jedoch nur in Forint zahlen.

„Forint? Was ist das?" fragt der Geschäftsinhaber.

„Die Währung meines Landes, ich bin Ungar", erwidert der Tourist in dem seligen Glauben, man hätte dies nicht sofort an seinem Akzent erkannt.

„Ich habe Ihr Geld noch nie gesehen — könnten Sie es mir zeigen?"

Der Ungar legt von jeder Sorte je eine Banknote auf den Tisch:

einen Zehner, einen Zwanziger, einen Fünfziger und einen Hunderter. Der Brite prüft die Scheine und betrachtet die darauf abgebildeten Persönlichkeiten. „Wer ist das?"

„Das ist Petöfi, der größte ungarische Dichter, ein Held des Freiheitskampfes 1848, auf dem Schlachtfeld verschollen, wahrscheinlich gefallen."

„Hm ... und das?"

„Das ist bitte Dözsa, Führer unseres größten Bauernaufstandes, niedergeschlagen und grausam gefoltert, bei lebendigem Leib verbrannt."

„Oh... und das?"

„Das ist Räköczi, der hat gegen den Kaiser von Österreich gekämpft, ist besiegt worden und fern der Heimat in türkischer Emigration gestorben."

„Oh ... und das?"

„Das ist Kossuth, bitteschön, ■ Führer der Revolution, in der Petöfi verschollen ist, nach deren Niederschlagung in die Emigration gegangen, sterbliche Uberreste mit großem Pomp heimgeholt...

Der Engländer hat Tränen in den Augen. Er rafft das Geld zusammen, drückt es dem Ungarn in die Hand und sagt mit inniger Anteilnahme: „Hier haben Sie Ihr Geld zurück. Und der Hut gehört auch Ihnen."

Woher kommt dieses Interesse der Ungarn für alles, was mit Sport zusammenhängt? Und wie kommt es, daß sie so oft Erfolg haben? Haben sie denn die nötige Ruhe, den Wohlstand, die Sorglosigkeit dazu, sich besser als andere Nationen auf die Wettbewerbe vorzubereiten?

Gewiß nicht. Bezeichnend ist vielmehr, was Ilona Elek, Olympiasiegerin im Florettfechten von Berlin 1936, auf eine ungefähr gleichlautende Frage antwortete, als sie sich 1948 in London, also zwölf Jahre später, in der gleichen Disziplin wieder die Goldmedaille holte:

„Ich habe in dem vergangenen Jahrzehnt einen Krieg, Elend, Hunger, Terror erlebt und durchgemacht ... Nur, wissen Sie, wir Ungarn lieben das Leben und den Kampf..."

Kampfeslust, Willenskraft, Ausdauer, das ist das Geheimnis der Naturtalente vom Format eines Puskäs, eines Läszlö Papp, der siegreichen Wasserpolo- oder Fechtmannschaften, der Allroundbegabungen im Pentathlom.

Und Mut haben sie obendrein. Es beginnt im fruhesten Alter, Der kleine Sproß einer in Wien lebenden Familie — ihre Abstammung zu erraten will ich ihnen überlassen - ist Zögling des The-resianums. Es begab sich noch in der ersten Klasse. Peter, ein begeisterter Turner und Sportler, hatte im Schwimmbad der Anstalt eben den Kopfsprung trainiert, als der Turnprofessor die ganze Gesellschaft zum ersten Mal im Freien antreten ließ. Er rief zum Hochsprung auf. Peter nahm, ohne eine Sekunde zu zögern, Anlauf und landete mit einem kühnen, vollendeten Kopfsprung im Scind. Er hatte sich keine Gedanken gemacht, ob im Sand vielleicht andere Spielregeln gelten als im Wasser. Furcht ließ er gar nicht erst aufkommen — er verließ sich blindlings auf den Befehl des Professors und auf sein Glück. Sein Genick war stärker als die Nerven des Turnprofessors - so geschah nichts weiter, nur der Professor erlitt einen Schock.

Der kleine Peter ist gewiß ein Sonderfall; nicht alle Jugendlichen vollführen einen Kopfsprung in den Sand. Aber alle schreiben in ihrem Alltag Training ganz groß.

1956 floh ein junger Bursche aus seiner Heimat. Er durchschwamm den Einser-Kanal, mit einer Hand ein Paket hochhaltend. Als er österreichischen Boden erreichte, entnahm er dem Bündel ein Handtuch, ein sauberes Hemd und einen Kamm. Nachdem er alle drei benützt hatte, trat er zu dem Erstbesten, von dem er annahm, daß er seine Sprache verstehe, und erkundigte sich nach einem guten Schwimmbad in Wien. Auf die verblüffte Frage, was er denn da so Wichtiges vorhabe, antwortete er mit der Knappheit eines Sportsman von echtem Schrot und Korn:

„100 Meter Butterfly..."

Damit entfernte er sich zu Fuß in Richtung Wien, um dort sein gewohntes Training so bald wie möglich wieder aufnehmen zu können.

Aus: EIN UNGAR KOMMT SELTEN ALLEIN. Neff Verlag.

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