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Digital In Arbeit

Strawinsky gibt Auskunft

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Dem amerikanischen Musikologen und Dirigenten Robert Craft, Jahrgang 1923, verdanken wir sehr viel. Er hatte Strawinsky 1948 kennengelernt und war bald in dessen Kreis, später auefi in Strawinskys Haus in Kalifornien aufgenommen worden: als Helfer, Berater, Kommentator, Interpret — und Gesprächspartner. Schon 1961 gab es eine deutsche Ausgabe der „Gespräche mit Strawinsky“, 250 Seiten stark. Und nun folgt ein neuer umfangreicher Band, etwa zur Hälfte mit Beiträgen von Strawinsky, zur anderen mit Tagebuchaufzeichnungen Crafts aus den Jahren 1948 bis 1968. Drei Jahre später starb Strawinsky.

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Dem amerikanischen Musikologen und Dirigenten Robert Craft, Jahrgang 1923, verdanken wir sehr viel. Er hatte Strawinsky 1948 kennengelernt und war bald in dessen Kreis, später auefi in Strawinskys Haus in Kalifornien aufgenommen worden: als Helfer, Berater, Kommentator, Interpret — und Gesprächspartner. Schon 1961 gab es eine deutsche Ausgabe der „Gespräche mit Strawinsky“, 250 Seiten stark. Und nun folgt ein neuer umfangreicher Band, etwa zur Hälfte mit Beiträgen von Strawinsky, zur anderen mit Tagebuchaufzeichnungen Crafts aus den Jahren 1948 bis 1968. Drei Jahre später starb Strawinsky.

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Eingeleitet wird der Band durch eine höchst amüsante, stellenweise auch ergreifende Beschreibung Strawinskys mit dem Titel „Ein Meister bei der Arbeit“. Dann folgen eine Reihe meist sehr ausführlicher Interviews amerikanischer Zeitungen, in denen Strawinsky — auf angelsächsisch unbefangene Fragen — die geistvollsten, pointiertesten und interessantesten Antworten gibt. Viele sind von grimmigem Humor imprägniert, in anderen gerät der große alte Mann ins Erzählen — und das ist nicht weniger lehrreich und aufregend. Hundert Personen und Werke werden da gestreift und beleuchtet (das Personen und Sachregister umfaßt nicht weniger als zehn Druckseiten), und immer wieder, fast in jeder Meinungsäußerung, bewundert man diese Synthese von urkräftigem, unaustilgbarem Rus-sentum und verfeinerter universeller Bildung. Es ist ein intellektuelles Spiel mit Formen und Formeln, mit historischen Erscheinungen und Gegenwartsphänomenen, aber stets geprägt durch das Temperament und die Künstlerpersönlichkeit des Verfassers: wie Strawinskys Musik. Ob gelegentliche oder prinzipielle Äußerungen fallen — es ist ein „dialogischer Strawinsky“, der uns hier entgegentritt.

Ob er glaube, daß ein bestimmter frühverstorbener südamerikanischer Komponist sich weiterentwickelt hätte, wenn er noch 35 Jahre hätte arbeiten können? Darüber habe er keine Meinung, antwortet Strawinsky, er könne nur „umgekehrt antworten“, indem er eine Reihe von Leuten aufzählt, die besser 35 Jahre früher verschwunden wären ... Was ein Komponist nicht tun soll? Preise und akademische Anerkennungen annehmen, keine Kulturkongresse besuchen, keine Interviews gewähren, nicht im Rundfunk über neue Musik plappern, nicht manövrieren, keine Reklame machen, spekulieren usw. Wenn er in einem anderen Beruf eine runde Million verdienen kann, so soll er das Komponieren für einige Zeit an den Nagel hängen ... Was er von der heutigen Jugend hält? Die langhaarigen Epheben finde er reizend, aber er selbst sei zu spießig, um zu den von ihnen erwählten Vaterfiguren zu gehören ...

Wie schon in früheren Jahren hat es Strawinsky mit den Dirigenten. Deren Tätigkeit entwickle sich immer mehr zu einer „Zuschauersportart“. Sie sind die Schoßhunde des zeitgenössischen Musiklebens, und wichtiger als ihre Musikalität ist, daß sie Experten in Flugplänen, der Steuergesetzgebung, der Körperbeherrschung und der Friseurkunst sind. Der Ausdruck „der silberhaarige Karajan“ habe inzwischen einen mythologischen Rang, vergleichbar Homers „rosenflngeriger Morgenröte“ erreicht. Quasi zur Exemplifizierung gibt Strawinsky an einer anderen Stelle unter dem Titel „Drei Arten von Frühlingsfieber“ eine genaue Analyse dreier Interpretationen seines „Sacre du printemps“' durch so verschiedenartige Dirigenten wie Karajan, Boulez und Craft. Was den Interpreten da auf neun Druckseiten an Fehlern, Mißachtung der Vorschriften des Komponisten, Eigenmächtigkeiten und Verfälschungen nachgewiesen wird, ist geeignet, auch den

Laien zu erschrecken. Noch einmal kommt ausführlich Beethoven zur Sprache, von dem Strawinsky die Symphonien 2, 4 und 8 bevorzugt.

Es gibt auch viele Klagen in diesem Buch, Klagen über Lärm und Smog, die ihn aus Kalifornien vertrieben. Warum er dann nach New York zurückkehre? „Um es noch einmal verlassen zu können.“ Es sind Klagen über die Beschwernisse des Alters (Strawinsky war immer schon ein großer Hypochonder), über die Leiden in einem halbautomatisierten amerikanischen Spital — aber auch über die allzu große Ruhe in Evian am Genfersee. Klagen um das lebhafte Geschäft, das sich um sein Ableben entwickelt, indem man ihn um Rat fragt wegen bereits geplanter Gedenkkonzerte, Schallplattenkassetten und — Denkmäler. Man betrachte ihn, den 82jährigen, wie einen Stein, der nach Sonnenuntergang noch ein wenig warm bleibt, und viele, die zu ihm kommen, tun es nur, um sich zu überzeugen, daß er noch wirklich lebt...

Für dieses Buch muß man dem Verlag dankbar sein, obwohl es schwere Mängel aufweist. Der Übersetzung von David und Ute Stark, die eine schwierige Aufgabe bewältigt haben, mißtrauen wir stellenweise. Zwar gibt es ein Register und eine Discographie — aber keine Anmerkungen. So bleiben zahllose Namen und Verhältnisse rätselhaft, man könnte eine ganze Liste anführen. Sonst ist man bei Veröffentlichungen dieser Art zu mitteilsam und erklärt uns, wer Max Weber und wer Max Planck, wer Max Liebermann und wer Max und Moritz waren. Hier — nichts. Das ist zu wenig.

ERINNERUNGEN UND GESPRÄCHE. Von Igor Strawinsky mit Robert Craft. S.-Fischer-Verlag 1972. 390 Seiten.

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