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Tierliebe

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Im Zweiten Weltkrieg standen in einem Vorort von Wien an einer stadtauswärts führenden Straße zwei Häuser. Dort lief eines Tages ein Kater zu. Die im Hof spielenden Kinder freuten sich über den Gast, der bald von den Bewohnern beider Häuser gefüttert wurde und den Namen Peter erhielt.

Das Tier gewöhnte sich an die neue Umgebung und lief herbei, wenn es gerufen wurde. Wenn die

Hausbewohner über den Neuankömmling redeten, dann nannten sie ihn „unser Peter". Der Peter war kein Gast mehr, er hatte ein neues Zuhause. Tagsüber schlief er in irgendeinem Winkel der Hinterhöfe, er fraß die Speisereste, die man ihm brachte, und ließ sich von den Hausbewohnern und ihren Kindern liebkosen.

Nachts strich er durch die Gegend, und da es Sommer war und die Nächte warm, fühlte er sich gut, obwohl er nie ein Dach über dem Kopf hatte. Frühmorgens war er oft in der Nähe der Mülltonne zu sehen, denn an diese Stel-

le fielen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen.

Wenn Katzen imstande wären. Glück und Unglück zu empfinden, dann könnte man meinen, daß dieser Kater ein glückliches Leben führte, das nur an Regentagen getrübt war. An solchen Tagen stand er abwechselnd an den verschlossenen Eingangstüren der beiden Häuser.

Im Herbst, als es kälter wurde, als es häufiger regnete und der Kater öfter miauend an den Haustoren saß, berieten die Mieter, was mit dem Tier weiter geschehen sollte. Als sich herausstellte, daß es nicht zimmerrein war, wollte es niemand bei sich aufnehmen. Man stritt darüber, wem der Kater gehörte. Die Bewohner des einen Hauses wollten ihn im Besitz der Mieter des anderen Hauses wissen und diese wehrten sich dagegen mit der Begründung, die Bewohner des ersten Hauses hätten ihn herbeigelockt und sollten ihn deshalb aufnehmen.

Mittlerweile hat der Winter begonnen. Die Leute redeten darüber, wie sehr es ihnen das Herz zerrisse, wenn sie das Tier in Kälte und Schnee herumlaufen sehen müßten, und sie beschuldigten einander gegenseitig der Herzlosigkeit. Sie hatten aufrichtig Mitleid mit dem Kater und wandten sich ab, wenn sie ihn draußen sahen. Später aber gewöhnten sie sich an diesen Anblick und meinten, daß der Mensch naturgemäß auch hart sein müsse.

Daraufhin war der Kater längere Zeit nicht zu sehen, und alle fühlten sich innerlich erleichtert. Erstens mußten sie das Tier nicht weiter leiden sehen, und zweitens hofften sie, daß es von jemandem aufgenommen wurde. Doch am Heiligen Abend, als die Soldaten auf Fronturlaub nach Hause kamen und mit ihren Familien vereint beim Weihnachtsbaum saßen, da hörte man von draußen ein Miauen, das fast dem Schrei eines Menschen ähnlich war. Ein unangenehmes Gefühl bemächtigte sich der Leute beim Weihnachtsfest, aber zum Glück wurde es im Hof bald wieder still.

Es begann das Jahr 1943, das Jahr der Schlacht von Stalingrad, in dem der Winter besonders streng war und ziemlich lang anhielt. Als im Frühling der Schnee schmolz und die Kinder im nahen Straßengraben spielten, entdeckten sie dort den erfrorenen Kater. Man hat ihn eingegraben, und die Bewohner der beiden Häuser vergaßen bald "diese Begebenheit.

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