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Digital In Arbeit

Es spricht sich herum

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Es begann damit, daß die Sprengladung z,u früh losging. Die Fassade der Hausruine Reichsstraße 7 stürzte dröhnend in sich zusammen, und als ein Windstoß die braungelben Schüttwolken hoch aufkräuselnd die Chaussee hinunter jagte, bemerkte man das Fehlen des Bauhilfsarbeiters Martin Weber. Er war noch rasch in den Keller hinabgestiegen, um seine Tasche, die er dort abgestellt hatte, in Sicherheit zu bringen. Das wurde ihm durch ein Versehen des Sprengmeisters zum Verhängnis. Man begann sofort zu graben; allerdings stellte sich die Aktion alsbald schwieriger dar, und die Chance, ihn lebend herauszubekommen, wurde immer geringer. —

Als Martin Weber aus kurzer Bewußtlosigkeit erwachte, mußte er einen würgenden Erstickungsanfall überwinden. Allmählich jedoch setzte sich der Staub, und als er die Augen öffnete, umgab ihn undurchdringliches Dunkel.

Er tastete sich an den nassen, klebrigen Wänden entlang. Es war totenstill. Die Tür war vollständig verrammelt. Eine Aussicht, sich selbst zu befreien, bestand offenbar nicht. Weber war nicht hysterisch. Er setzte sich auf einen Hackstock, der in der Ecke stand, nahm seine Tabaksdose heraus und begann zu kauen. Das beruhigte und machte einen anderen Geschmack im Mund.

Martin Weber wartete. Dieses Warten war ihm nidit fremd. Es war seit je die Hauptbeschäftigung seines Lebens, Ein langweiliges und enttäuschendes Warten auf Ziele, die sich bald als neue Etappen des Wartens darstellten. Warten auf Arbeit, Warten auf das Kriegsende, Warten auf die Rückkehr von Marlen, die inzwischen mit seinem Freund durchgegangen war, und die er noch immer liebte; Warten auf den Wochenlohn, der nie reicht, vielleicht überhaupt nur auf irgend etwas Schönes, das nie kommt, niemals kommen wird. Einfach warten, auf nichts und auf alles, je nadidem. Das Leben schien ein trostloses Warten, weil man irgendwo zutiefst im Herzen vergessen hat, worauf.

Die Luft wurde dünner und Martin lehnte sich leicht an die Wand. Sie war eiskalt und feucht. Hie und da rieselte es noch ganz fein im Gemäuer, aber bald verstummte auch das. Stille und Dunkel weiteten sich zu einem unendlichen Raum, in dem er ganz allein auf einem Holzpflock saß, er, Martin Weber.

Er konnte sich später nicht mehr erinnern, wie lange er so gesessen war; es konnten Stunden gewesen sein, vielleicht auch Tage ... bis, ja bis, es ist schwer auszudrücken, bis er auf einmal nicht mehr allein war-, bis ihm entgegenkam, von dem er nachher wußte, daß es das war, worauf er sein Leben lang vergebens und unbewußt gewartet hatte.

Die Begegnung machte ihn sehr glücklich. Sie stimmte ihn heiter und aufgeräumt, sie erfüllte ihn ganz und machte ihn lebendig und mitteilsam. Denn das Gespräch, das er mit der Begegnung führte, war lange und weit verzweigt, es berührte oft kleinste Details seines Lebens, griff weit zurück in die Kindheit, machte Nebensächliches bedeutsam und läuterte vieles. Dieses Gespräch lohnte sein Warten. Es war der Inhalt seines Lebens.

Das Hauptmerkmal des Buchhalters Eberle war neben seiper überlangen Nase, auf der eine Hornbrille saß, die Tatsache, daß er.immer sehr viel zu tun hatte. Er war zweifellos der meistbeschäftigte Mann der Firma Segebrecht & Co., der Segebrecht - Damenwäsche - Produktions - AG. Heutzutage gilt es für erfreulich, wenn man viel zu tun hat; man hat keine

Existenzsorgen, ja überhaupt keine Sorgen, man hat keine Zeit, nachzudenken — und was gibt es heute Entsetzlicheres, als nachdenken zu müssen? Die Leute beneideten daher Herrn Eberle außerordentlich. Rüstungen, Kalter Krieg, Selbstmordserien, Hungerstreiks, Atombombe und Weltkrise, das waren für ihn sehr ferne Begriffe, die ihn nicht sonderlich beunruhigten. Er hatte einfach keine Zeit. Kaum war es früh, war es wieder abends, Chef, Büro, Diktat, Bilanzen — Herr Eberle war ein viel umneideter Mann.

Als er heute um 'AB Uhr früh das Haus verließ, hatte er absolut nicht die Absicht, sich tdurch irgend etwas aufhalten zu lassen. Trotzdem drehte er sich um und rief laut: „Hallo, Weber!“ als er sich nach einem Mann, umschaute, der ihn im Vorbeigehen antippte.

„Laß dich einmal anschauen, du bist ja zum Stadtgespräch geworden, mein Lieber“, er hieb ihm kräftig auf die Schulter, eine Begrüßung, die sich der ehemalige Sehreibstubenunteroffizier dem MG-Schützen 2 gegenüber erlauben konnte. Eberle wurde gesprächig.

„Lange hat. es gebraucht, bis man dich herausgebuddelt hat, was? Zwei Tage, zwei Nächte! Du bist allerdings einiges gewöhnt, damals am Jablunkapaß, wenn ich daran denke... Aber erzähl doch! Ich habe noch etwas Zeit.“

Er hängte sich freundschaftlidi ein, und Weber erzählte. Er erzählte etwas, was der Buchhalter^ nicht erwartet.hatt<\ Es blieb.ihm darüber schier der Mund otfen stehen. Da erzählt jemand um i8 in der Früh, da er eben mit der gestern abends aufgearbeiteten Bilanz zu der Firma brecht & Co., Segebrecht-Damenwäfche-Produktions-AG. gehen wollte, da erzählt jemand im Hupen, Klingeln, Kreischen und Klappern, inmitten des Räderwerks einer morgendlichen Geschäftsstraße, daß Gott lebt und daß er ihm begegnet sei, real, groß und einmalig in der tiefen Nacht und in der unendlich verzweifelten Einsamkeit eines Vorhofes zum Tode. Es erzählt dies keine alte Jungfrau, sondern ein Mann in seinem Alter, der im blauen Arbeitskittel vor ihm steht, breit und gebräunt und mit klaren Augen. Eberles Kopf senkte sich tiefer, seine Schritte wurden langsamer.

„Weißt du, Eberle, sagte der andere, wir alle gehen durch ein sehr freudloses Leben. Wir schuften von früh bis spät und warten. Hin und wieder fragen wir uns, was das Ganze für einen Sinn hat. Einmal ist Krieg, dann Frieden, dann geht es wieder an, zwischendurch Ärger, Schmerzen, viel Arbeit, ein paar rasche Freuden und wieder so weiter. Wir leben an unserem eigentlidien Leben vorbei. Wir kommen nicht dazu. Es erstickt uns unsere Umgebung. Was tust du anderes, als täglich ins Kontor gehen und von früh bis abends über Zahlen sitzen. Ist das die Erfüllung deines Lebens, dieser einmaligen großen Möglichkeit?“

„Ich habe keine Zeit“, wendete Eberle schüchtern ein.

„Das ist es eben, wir haben keine Zeit. Vielleicht müssen wir alle von unserer Vergangenheit verschüttet werden, von allem, was uns umgibt, vielleicht müssen wir alle tief verschüttet werden, um Seine Stimme wieder hören zu können.“

Eberle schwieg.

Der Herr Direktor Krause war nervös. '46 Uhr und in einer viertel Stunde sollte er Ria abholen. Die nette kleine Ria mit der guten Figur und den immer feuchten Augen. Direktor Krause drückte die Telephontaste zur Sekretärin: „Lassen Sie Max vorfahren, ich komme gleich hinunter. Die Schweizer Herren morgen um H9 Uhr und jetzt nodi rasch Eberle, ja, er soll gleich h erüberkommen.“

Direktor Krause stand auf, nahm ein Flakon Parfüm aus dem Schrank und belupfte Revers und Taschentuch. Er freute sich wirklich auf den heutigen Abend.

„Aha, Sie sind schon da, bitte, heute ganz kurz, ich habe schon vorfahren lassen.“

Direktor Krause bemerkte, daß der Buchhalter etwas zerstreut war, er wunderte sich darüber, denn das war noch nie vorgekommen. Er mußte ihn mehrmals korrigieren.

„Was über die Leber gelaufen, Eberle“, sagte er jovial, als sich die Mappen schlössen und der Buchhalter sich gerade empfehlen wollte.

„Keineswegs, nicht im geringsten, äh, äh, Herr Direktor“, stotterte Eberle verlegen.

„Scheint doch etwas los zu sein mit Ihnen, wollen Sie sich nidit aussprechen?“ Er sah ihn aufmunternd an.

Der Buchhalter war sehr verlegen. „Herr Direktor, pardon, die Frage: Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal an Gott gedacht?“

Wenn jetzt jemand Direktor Krause gefragt hätte, ob er den Kaiser von China kenne, wäre er kaum überraschter gewesen. „Wie kommen Sie auf diese Frage“, sagte er und wandte sich zur Tür. Es begann ihm etwas ungemütlich zu werden.

„Ich meine nur“, sagte der Buchhalter stockend, „ob es wirklich richtig ist, sein ganzes Leben darüber nachzudenken, wie man den Verkaufsquotienten steigert und neue Absatzmärkte für die vollendete Segebrecht - Damenwäsche&#9632;, findet. Ich meine, ob der Lebensinhalt hiemit...“

Und dann erzählte^ er in paar Worten die Geschichte vom Bauhilfsarbeiter W eher.

Direktor Krause runzelte die Stirn&#171;. Er

War kein Freund allzu großer Vertraulichkeiten mit Angestellten. Wo würde man hinkommen, wenn man anfinge, mit den Leuten über Gott zu debattieren.

„Sie sind nervös, lieber Eberle, überarbeitet, wann haben Sie den letzten Urlaub gehabt? Na sehen Sie! Fahren Sie ein bißchen weg, ans Meer oder so.“

Eberle war entlassen, der Direktor Krause aber stand noch ein wenig am Fenster und blickte auf die Stadt, auf die sich langsam das Abenddunkel senkte. Das Telephon klingelte: „Der Wagen ist vorgefahren, Herr Direktor.“ „Danke.“ Ria durfte man nicht warten lassen.

Aber Herr Direktor Krause war an diesem Abend nicht sonderlich bei Laune. Er sprach wenig und trank viel. Ria war enttäuscht und langweilte sich.

Als Krause gegen früh nach Hause kam, konnte er den Haustorschlüssel nicht finden. Er läutete, und der Hausbesorger Prochaska kam schlaftrunken, um zu öffnen.

„Prochaska“, sagte Direktor Krause etwas pathetisch und stellte sich leicht schwankend vor dem Hausbesorger auf, der nicht sehr bei der Sache zu sein schien. „Prochaska, glauben Sie an Gott?“

Prochaska, dem solche Fragen überhaupt und erst recht nicht um 4 Uhr in der Früh angenehm waren, sagte: „Was weiß unsereiner, Herr Direktor. Ist schon möglich, daß es einen gibt.“

Er .trat von einem Fuß auf den anderen und dachte an sein warmes Bett. Aber der Direktor ließ nicht locker.

„Prochaska, schauen Sie mich an, auf Ehre und Gewissen, wie oft denken Sie an Gott?“

„Ach, Herr Direktor, das ist schwer zu sagen“, sagte er und klapperte leicht mit den Zähnen. „Wie mein Bub noch draußen war, da habe ich öfter dran gedacht. Aber dann, als die ... Nachricht kam, no ja, man tut seine Pflicht, es gibt viel Elend, und Leute wie wir denken am besten gar nicht nach.“ Das war wie eine Erleuchtung: „Am besten ist, Herr Direktor, man denkt darüber nicht nach.“

Und damit wollte sich Prochaska zum Gehen wenden. Krause aber hielt ihn am Rockzipfel zurück.

„Kommen Sie noch ein bißchen zu mir. hinauf, Prochaska“, sagte er, „auf eine Schale Mokka. Idi erzähle Ihnen etwas.“

Prochaska gähnte, dachte an die Trinkgelder des Direktors Krause und entschloß sich, um 4 Uhr in der Früh mit dem Direktor der Firma Segebrecht der Damen-wäsche-Produktions-AG. bei einer Schale Mokka über Gott zu diskutieren.

Als die junge Frau, nachdem sie den Arzt zur Tür gebracht hatte, in das Krankenzimmer zurückkam, sprach der Hausmeister Karl Prochaska, der gestern vom Schlage gerührt worden war. Vielleicht sprach er zu jener sehr müden und abgehärmten Frau, die am Fenster saß und 40 Jahre seines Lebens mit ihm geteilt hatte, oder vielleicht zu ihr selbst, seiner Tochter, die dieses sein Leben, das nun zu Ende ging, immer gehaßt hat. Dieses Haus-meisterleben des Tratsches, der Müllabfuhr, der grauen Stiegen, der schwarzen Geländer und der roten Steinfliesen auf den Gängen. Wie sie es gehaßt hat, dieses Leben trostloser Eintönigkeit, dem sie seit ihrer Kindheit zu entfliehen trachtete. Entfliehen? Wohin? Lächerliche Flucht der Unreife: ins Kino, in die Illustrierte, in den Schundroman; erniedrigende Flucht der Frühzeit: auf den Tanzboden, in die Schenke, zu Männern; mißlungene Flucht der Frau: in die Monotonie des Fabriklebens, in die Ehe... Der Alte sprach, vielleicht sprach er zu niemandem, zu sich selbst oder in die weite Stille des Zimmers. Er sprach von dieser Trostlosigkeit seines Lebens, von Kampf und Verachtung, von Stolz und Betäubung, sehr viel von Betäubung. Und nun fühlte die junge Frau ein tiefes Erbarmen mit diesem erlöschenden Leben — und Scham; denn sie verglich das ihre mit dem seinen, und war es nicht auch ohne Wärme, ohne Licht, ziellos und ein ständiger Versuch des Betäubens? ' %

Prochaikas Stimme wurde immer schwächer. Abe^feagenügte nicht. Er spürte es zutiefst, sein Bekenntnis nützte nichts, es war zuviel Leere da. Er mußte etwas tun, irgend etwas in der letzten Minute, das zählte, das Bestand hatte, das er in diese große Leere hineinstellen konnte wie einen Block aus Granit. Er hob den Kopf. Was konnte er tun, hier am zerwühlten Bett seines Todes?

Die abgehärmte Frau sah durchs Fenster auf die Straße, auf der Menschen von Autos überholt wurden. Sie hörte die Schritte ihrer Tochter und das leise Flüstern des Kranken. Sie wußte, daß die Tochter jetzt am Lager kniete, aber'sie sah nicht hin, sie sah auf die Straße, wo die Autos die Menschen überholten ...

Diese undurchdringliche Stille war so plötzlich im Zimmer, daß die Frau am Fenster jäh den Kopf herumriß. Da stand ihre Tochter Marlen sehr aufrecht vor dem Totenbett.

Martin Weber stand am Herd und kochte sein Abendessen. Seit er aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und seine junge Frau Marlen nicht mehr vorgefunden hatte, hielt er mit einer gewissen trauigen Pedanterie die kleine Wohnung in Ordnung -und bereitete sich auch die Mahlzeiten selbst. Er war heute etwas früher von der Baustelle nach Hause gekommen, hatte sich umgekleidet und war dann nachdenklich im Zimmer gesessen. Er dachte an Marlen. Er hatte immer an sie gedacht voll schmerzlicher Sehnsucht in der Einsamkeit des winterlichen Stellungskrieges, voll Hoffnung auf der langen Odyssee seiner Heimkehr, voll tiefer Enttäuschung, als er sie nicht mehr vorfand und immer wieder seither an die kleine lebensdurstige Marlen, auf die er wartete, auch heute. Dieser Abend wurde der glücklichste im Leben Martin Webers. Er dachte nichts Besonderes, als es klopfte und er öffnen ging, und dann konnte er es einfach nicht fassen, als sie ihm freundlich zunickte und so, als ob Tage und nicht Jahre'dazwischen lagen, wie einst in die Küche ging, die Schürze umband und den

Tisch zu decken begann. Nun erst sah er, daß sie Trauer trug.

Als sie sidi zu Tisch setzten, stellte Marlen ein Sträußchen Margeriten zwischen sich und Martin. „Wir wollen neu anfangen“, sagte sie. Uber die Margeriten hinweg sahen sie sich an und dachten beide dasselbe: „Und diesmal mit Ihm.“

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