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Trügerische Hoffnung?

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1956, im Jahr von Nikita Chruschtschows Demontage des Stalin-Kults, erschien Susanne Leonhards „Gestohlenes Leben“ mit dem Untertitel „Schicksal einer politischen Emigrantin in der Sowjetunion“. Wolfgang Leonhard, ihr Sohn, war im Jahr davor mit seinem Erinnerungsbuch „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ an die Öffentlichkeit getreten. Die Aufklärungsliteratur über Stalins Despotie und den Gu-lag verband sich damals — nicht nur bei Ex-Kommunisten - mit der Hoffnung auf eine Erneuerung durch den „Kreml ohne

Stalin“, so der Titel von Wolf gang Leonhards zweitem Erfolgsbuch.

Susanne Leonhards Lebensbericht wurde mehrmals (bei wechselnden Verlagen) aufgelegt, zuletzt gekürzt 1983 auch als Taschenbuch unter dem Titel „Fahrt ins Verhängnis. Als Sozialistin in Stalins Gulag“. Das Kapitel „Sechzehn Monate in Moskau“ (bis zu ihrer Verhaftung im Oktober 1936) ist 1987 in der von Eva Rosenkranz herausgegebenen Anthologie von „Rußland-Impressionen“: „Reisen durch ein unbekanntes Land“ (!) erschienen, die im Zeichen der mittlerweile schon wieder vergilbenden Hoffnung auf Gorbatschow zusammengestellt wurde.

Susanne Leonhards Erfahrungsbilanz ist demnach in der ständig wachsenden Flut der Bekenntnis- und Abrechnungsliteratur durch die Jahrzehnte präsent geblieben. Die Neuausgabe von 1988 erscheint wiederum wie schon die Erstveröffentlichung in einer Zeit trügerischer Hoffnungssucht.

Die Hinweise zur Geschichte des Buches sind deshalb unerläßlich, weil sie nicht bloß Susanne Leonhards fixierten Glauben an die sozialistische Utopie und deren Chancen in der Sowjetunion — trotz des eigenen schweren Schicksals — belegen. Diese Fixierung als persönliche Uberzeugung teilte sie mit vielen Enthusiasten der ersten Stunde und Leidensgenossen. Heute aber ist sie in den und via Medien geradzu obligatorisch.

Vom Leben Susanne Leonhards her mag das wie bei den anderen KP-Aktivisten nun schon einiger Generationen verständlich sein, die in den „Fleischwolf“ gerieten, überlebten, sich abwandten um dennoch ihrer Imagination des Sozialismus und der Ablehnung des Milieus ihrer Herkunft treu zu bleiben, nicht geirrt, ihr Leben nicht verfehlt zu haben; jedoch auch als Modetorheit aus Unbelehrbarkeit angesichts der Botschaft, des Inhalts der Leidensund Rechenschaftsliteratur?

Es dürfte mit ihr wohl so gehen: Die einen lehnen sie als verleumderisch, als ihren Zwecken hinderlich ab; andere stört sie, weshalb sie ignoriert wird (man weiß das ja!); und wiederum andere finden sich, zwar gänzlich in einer anderen Welt des Uberflusses und der Rechtssicherheit lebend, im Märtyrertum dieser selbstlosen Idealisten und in ihrer unerschütterlichen Gläubigkeit wieder. Wenn man dann, nach all den Enttäuschungen, Entbehrungen und Erniedrigungen immer noch an der Sache, an der Idee festhält!

Darauf kann Susanne Leonhard nicht mehr antworten. Sie ist 1984,88jährig, in Stuttgart gestorben. Zwölf Jahre lang stand sie die Unfreiheit durch, zuerst im Gefängnis in Moskau, danach in einem arktischen KZ und zuletzt zwei Jahre auf einem Sowchos im Altaigebiet.

Von ihrem Sohn wurde sie 1936 getrennt. 1948 sah sie ihn - um seinetwillen hatte sie sich nicht aufgegeben - in Ostberlin als tonangebenden Funktionär, als ihr gänzlich fremd gewordenen Stalinisten mit Tito-Illusionen wieder. Das hieß für sie: Weiterflüchten, wohin nur? Wenn er abspringt...

Wie sie heute über seine Glas-nost-Gläubigkeit dächte? Oder über Trotzkis Rumoren in Moskau, bald fünfzig Jahre nach seiner Ermordung in Mexiko? Allein schon um der vielen, heute wieder brandheißen Details sollte Susanne Leonhards Vermächtnis in Ergänzung der scheinbar neuen „Moscow News“ alte und neue Leser finden.

GESTOHLENES LEBEN. Als Sozialistin in Stalins Gulag. Von Susanne Leonhard. Athenäum Verlag, Frankfurt am Main 1988. 544 Seiten, öS 374,40

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