6819043-1973_24_12.jpg
Digital In Arbeit

Vergeudetes Leben

Werbung
Werbung
Werbung

Jakov Lind ist ein erstaunlicher Autobiograph. In der Mitte der Vierzig stehend, ist er andauernd damit beschäftigt, auf sein eigenes Leben zurückzublicken, eine Beschäftigung, die in der Literatur für gewöhnlich höheren Jahrgängen zukommt. Aber es war eben ein frühreifes Leben, Hitler und der Krieg haben dazu beigetragen, es noch stürmischer ablaufen zu lassen, und darum kommt wohl auch das Memoirenschreiben vorzeitig.

Als vor drei Jahren Linds „Selbstporträt“ erschien, erfuhr man von einem Knaben, der in Wien das jüdische Chajes-Gymnasium besucht hatte und als Halbwüchsiger seine „Schule für Metaphysik“ absolvierte; der als Elfjähriger allein nach Hol-

land flüchtete und dort die Judenverfolgungen überstand. Er hatte das Husarenstück vollbracht, sich mit falschen Papieren auf einem Lastkahn anheuern zu lassen und als Matrose das von den Flammenbränden der großen Bombardements verwüstete Deutschland zu durchqueren — ein Bursche, der eher mit Spinoza als mit körperlicher Arbeit vertraut gewesen ist. Er kommt heil durch den Krieg, er schlägt sich nach Palästina durch. Aber er ist kein Bauer und kein Soldat, er ist ein Intellektueller und möchte schreiben. Das Leben im Kibbuz endet mit einer Enttäuschung.

Nun, da der zweite Band mit dem Titel „Nahaufnahme“ vorliegt, hören wir zwar gleichfalls davon, daß er

schreiben möchte, aber sehr wenig davon, daß er es tatsächlich tut. Die Zeit nach 1945 war keine Zeit für Kinder. Jakov Lind gelangt nach Marseille, durchquert mit mehr oder weniger Geld — meist mit weniger — Nachkriegseuropa. Am Beginn dieser Reise ist er Kommunist (oder was er dafür hält), am Ende bewegt er sich in der Nähe eines chinesischen Mystizismus (oder was er dafür hält). Er sucht in Holland die Stätte auf, von der er vertrieben worden ist, bleibt lange Zeit in Wien, versucht sich an den Fleischtöpfen von Dänemark und Schweden.

Knapp über Zwanzig, führt er das Leben eines Sexualakrobatan und erzählt es auch mit großer Ausführlichkeit. Was die Mädchen anlangt, muß der Leser haarschaft aufpassen, um nicht jede mit jeder zu verwechseln.

Literarisch bewegt er sich hier auf den Spuren von Henry Miller, aber seine Kreuzfahrt durch das verkommene und verfallene Nachkriegseuropa ist doch mit der Formel „Der Miller und sein Kind“ nicht völlig umschrieben. Eher tritt uns die Orientierungslosigkeit eines jungen Menschen entgegen, der mit Sechzehn haarsträubende Abenteuer durchzustehen hatte und nun in keine Gemeinschaft mehr hineinfinden kann. Dieser zweite Erinnerungsband enthält weniger Schicksal als der erste, er ist die Geschichte eines vergeudeten Lebens.

Am deutlichsten zeigt sich dies in den Jahren, die Jakov Lind in Wien verbracht hat. Er schlägt sich mit Schwarzhandel durch, rollt Sauerkrautfässer, verdient sich ein paar Schilling als Privatdetektiv, läßt sich von Mädchen durchfüttern, die selbst nichts haben, oder arbeitet bei der alliierten Briefzensur. Ein verhält-

nismäßig ernsthaftes Beginnen Ist der Versuch, am Reinhardt-Seminar Regie zu studieren. Er sitzt im „Strohkoffer“, wo sich damals der Art-Club formierte, mit den später berühmt gewordenen Wiener Malern und Dichtern beisammen. Kortner .führt vor Studenten den Film „Heimkehr“ vor und findet bei ihnen kaum Verständnis für das Schicksal der Juden im Dritten Reich — außer bei dem jungen Jakov Lind, der seine Partei ergreift.

Daß seihe Topographie von Wien nicht stimmt, ist nur ein äußeres Symptom für die Verzerrung, mit der er die sich langsam konsolidierende Welt rund um 1950 abbildet. Er bietet Farbfetzen und Flecken, ein Kaleidoskop, das ständig in Bewegung bleibt. In kurzen, atemlosen Sätzen und mit einem grimmigen Humor schildert er das aus den Angeln gehobene Europa. Als einen Versuch, in den Mutterleib zurückzukriechen, qualifiziert er seine Reisen ohne Ziel. Eines der gelungensten Prosastücke, die er hier einblendet, ist die visionäre Erinnerung an die eigene Geburt, an das Ausgestoßenwerden in eine Welt der Kälte. Das Leben erscheint ihm sinnlos in einer Zeit, die unter der Drohung der Atombombe lebt. In dieser Hinsicht gleicht er einer Gestalt des von ihm verehrten Nestroy: dem Vagabunden Knieriem, der sich allen Anstrengungen entzieht, weil ja doch morgen der Komet die Welt verwüsten werde. Am Ende der Odyssee lebt er zwar immer noch vom Schneeschaufeln, aber er hat eine Möglichkeit entdeckt, mit der Welt fertig zu werden: sich schreibend im Chaos zu orientieren.

„NAHAUFNAHME.“ Von Jakov Lind. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt, 165 Seiten, 22 DM.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung