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Verstecken hinter dem Durchschnitt
Giorgio Strehler erklärt in seinem letzterschienenen Buch, die Krise der zeitgenössischen Bühnenliteratur sei unbestreitbar, sie sei das Problem des heutigen Theaters insgesamt. Stimmt das? Tatsächlich hat der Autor heute kaum Geltung, man spricht generalisierend vom Regisseurtheater, ja, Hans Hollmann fordert: „Alle Macht der Regie!“
Nicht das Theater als Ort szenischer Umsetzung ist in Krise, nicht die Regie, nicht die Leistung des Schauspielers, sondern die des Stückeschreibers. So war es berechtigt, daß bei dem eben beendeten 2. Österreichischen Theatertag in Linz die Krise der modernen Bühnenliteratur das zentrale Thema bildete.
Es zeigt sich immer wieder, daß Menschen, die vom Theater nicht nur Unterhaltung erwarten, von neuen Stücken unbefriedigt bleiben. Die Frage ergibt sich, ob die Kraftkonstellationen, die heute überaus bedrohlich die Welt beherrschen, in deren Machtbereich wir alle uns befinden, überhaupt auf dem Theater gespiegelt werden. Bedeuten die weltbedeutenden Bretter in den neuen Stücken wirklich die Welt, unsere heutige Welt? Kaum. Wir sehen in vollem Gegensatz zu früher fast ausschließlich Durchschnittsmenschen auf der Bühne. Von Wolfgang Bauer bis zu den Unterdurchschnittlichen bei Kroetz, von Osborne bis Albee und Pin-ter. Überdurchschnittliche sind Ausnahmen, zweifellos entspricht diese Vorherrschaft des kleinen Mannes unserem Kollektivzeitalter.
Die Probleme ballen sich. Man denke an die ungeheuerliche Produktion von Waffen — man muß es wohl hervorheben — zwecks Tötung von tausenden und tau-senden Menschen, eine Produktion, um die sich Staatsmänner bemühen, man denke an die Zentren gewaltiger Macht, deren Einfluß sich mit Waffengewalt über den ganzen Erdball erstreckt, man denke an die Einwirkung der Ölvorkommen auf staatliche Maßnahmen, an die Rauschgiftzentralen, an die Ausbildung von Attentätern, nichts davon in den Stük-ken. Man hat den Eindruck, daß sich die Autoren vor diesen Problemen hinter den Durchschnittsmenschen verstecken. Es bleibt allerdings die Frage, ob diese Vorwürfe behandelt werden können, ohne einer konventionellen, nunmehr wirkungslosen Dramaturgie zu verfallen. Die Antwort steht bei den Autoren.
Generell zeigt sich ein auffallender Dimensionsverlust. Die Stücke verharren im rationalen Bereich, im besonderen, wenn es im Gefolge von Brecht, der Marx beherzigte, darum geht, die Welt zu verändern. Man führt lösbare Probleme vor. Diese flache Schichte entspricht gewiß dem rationalen, sich autonom dünkenden Menschen von heute. Aber Probleme, die gelöst werden können, erklärt Ionesco berechtigt, sind zweitrangig. Dimension greift darüber hinaus. So werden Grundfragen des Existentiellen kaum anvisiert, Schicksalsprobleme gibt es nicht, ebensowenig irgendein Geheimnisvolles, obwohl unser Leben voll davon durchwirkt ist. Es gibt kaum noch Dichtung in neuen Stücken.
Die Krise der Bühnenliteratur ist durch das Sosein des heutigen Menschen bedingt. Aber darf man nicht doch, trotz allem, auf Überraschungen hoffen? Man kann nur immer wieder sagen, es ist ein Einsatz von Theatern her erforderlich. Der vor kurzem herausgekommene Briefwechsel Brahm-Schnitzler sollte allen Theaterdirektoren Pflichtlektüre sein, weil daraus zu ersehen ist, welche spornende Kraft von einem Theaterdirektor auf den Autor ausgehen kann.
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