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Wallfahrt

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Viele Menschen stehen heute dem Brauch des Wallfahrens skeptisch gegenüber und sagen: Beten kann ich überall. Ähnliches wird gern gegen den sonntäglichen Gemeindegottesdienst ins Treffen geführt. Soweit es nicht nur bequeme Ausrede ist (weil man ja auch im Wald kaum Menschen trifft, die ihre Andacht verrichten), hat dieser Satz seine prinzipielle Richtigkeit. Doch hinter dem Brauch des Wallfahrens steht mehr.

Seit jeher und in vielen Religionen gibt es die Uberzeugung, daß bestimmte Orte durch das Wirken Gottes geheiligt sind. Und die Erinnerung an dieses Wirken lebt nun in den Menschen fort, die diese Stätten aufsuchen. Ursprünglich waren solche Orte durch die Natur hervorgehoben. Dies betrifft vor allem die Berge, da man sich . hier dem Himmel näher fühlte. Solche Berge sah man als Berührungspunkte zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und der Welt der Menschen,

Hier fühlte man sich der zerbrochenen Einheit zwischen oben und unten wieder ■ nahe. Der Gedanke, daß unsere Sehnsucht nach Ganzheit und Unversehrtheit gestillt würde, wenn einander Himmel und Erde berühren, ist jedem Bergsteiger vertraut. Und die Romantiker faßten diese Sehnsucht in poetische Formeln: „Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküßt...” (Eichendorff).

Auch im profanen Bereich kennen wir den Brauch der „Wallfahrt” zu einem Ort, den wir mit Erinnerungen besetzt haben. Mancher meint, die Ausstrahlung seiner jungen Liebe wieder erfahren zu können, wenn er seine Hochzeitsreise nach vielen Jahren der Ehe wiederholt oder wenn er die Orte verliebter Treffen wieder aufsucht.

Ungezählte Menschen „pilgern” alljährlich zu Goethe nach Weimar, zu Wagner nach Bayreuth oder zu Mozart nach Salzburg. Sie erhoffen, an diesen Orten den Geist des Genies stärker zu spüren als anderswo. Der eigentliche Ort christlicher Wallfahrt ist das Land, in dem Jesus lebte und wirkte — deshalb: das .Jleilige Land”. Und die Stadt der Leidensgeschichte, Jerusalem. Alle anderen Wallfahrtsorte heben einen Teilaspekt der christlichen Botschaft hervor.

Der erst spät aufgekommene Brauch, an bestimmten Orten zu bestimmten Heiligen um bestimmte Dinge zu beten, tritt hinter der eigentlichen Symbolik des Wallfahrens zurück: Wir sind ein Leben lang unterwegs zu einem Ziel, in dem sich all das erfüllt, was wir an den profanen oder geheiligten Wallfahrtsorten gesucht haben — die Versöhnung von Himmel und Erde, von Gott und Mensch.

39. Teil einer Serie über Zeichen und Symbole im Jahreskreis der Kirche.

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