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Wiederbegegnungen

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Nach mehr als sechzig Jahren habe ich ein hochberühmtes, überaus geliebtes Buch wieder gelesen, das ich nicht nennen möchte, weil ich seinen Dichter weiter liebe. Denn ich muß gestehen, daß es mich trotz seiner makellosen Prosa und vieler un-vergeßbar schöner Augenblicke so enttäuscht hat, wie ich es nie geahnt hätte. Es sind Aufzeichnungen eines jungen einsamen ausländischen Dichters, der in einer Weltstadt zu leben versucht, aber von seiner Umgebung und seinen Begegnungen, die er genau schildert, so gepeinigt wird, daß es zuweilen den Anschein hat, diese Leiden seien eingebildete eines Kranken. Fast durchaus sind es unsympathische Figuren; die Unregelmäßigkeiten ihrer Gesichter und ihres Gehabens werden ohne Scheu dargestellt; sie zwingen den sie Beobachtenden oder ihnen Folgenden sogar, sie nachzuahmen, einmal so vollkommen, daß den Leser die Verzweiflung des Dichters auch heimsucht. Dennoch muß zugegeben werden, daß diese Beschreibungen von hoher künstlerischer Anschaulichkeit zeugen. Die Sprache, in der wir von ihnen vernehmen, ist selten die natürliche, viel mehr fällt auf, daß der Schriftsteller fast jeglichen Satz auf eine bewußt besondere Weise darbietet, nicht ohne Anstrengung, diese Preziosität beizubehalten, was allerdings, trotz manchem überraschendem Gelingen, häufig1 mißglückt.

Der ratlose junge Mann hilft sich durch Lesen, durch langes Gehen in den Straßen, wo ihm wieder nur solche Gestalten entgegenkommen, die sich plötzlich gegen ihn kehren, ihn verhöhnen, beleidigen, zur Flucht treiben. Es bleibt dem Verfolgten keine andere Entrinnung als die Erinnerung an seine fern gewordene Heimat, seine Kindheit und Jugend in ihr. Allein auch hier wird ihm Ruhe nicht gegönnt. Denn nicht minder als die Fremden in der Stadt sind ihm die Ahnen und Verwandten in den Schlössern, mit vielleicht einer oder der anderen Ausnahme, quälende Erscheinungen, deren Gesichter ihn kaum anders erschrecken. Ein wahrer Zugang zu ihnen ist beinahe nie möglich, selbst nicht zu den Toten. Das Kind, der Jüngling empfindet sich in dem weiträumigen Speisesaal, bei den langen Mahlzeiten, nicht anders einsam wie später der Erwachsene in seinem elenden Mietzimmer, in den Bibliotheken, in den Straßen und Gärten der nicht zu bewältigenden Stadt. Oftmaliges Gedenken an liebende Frauen der Vergangenheit gönnt dem Schreiber des Tagebuches wohl eine Befreiung oder Eroberung. Träume von Reisen, von Aufenthalten in Venedig oder in der Provence gehören zum Schönen des Buches. Verehrte Dichter mahnen ihn vergeblich, ihrem Vorbild nachzueifern; und wenn das Werk damit ausgeht, daß ein Bekenntnis zu der Notwendigkeit, von niemandem geliebt zu werden, eine der ergreifendsten Legenden des Evangeliums wenig glaubhaft deutet, so mag der Leser, der seinem Dichter treu bleibt, es sich selber kaum noch übelnehmen, wenn er ein solches Werk nicht mehr ertragen zu können wähnt.

Wie nun widersteht er dieser Veränderung einer Liebe? Es kam mich an, zu glauben, daß die eigentlich nebensächlichen Menschen, von denen ich eben gelesen, nach dem Umschlagen der Seite, auf der von ihnen die Rede war, zu Staub zerfallen. Ja, die Gestalten alle, die des Volkes wie die des Adels, scheinen,wenn sie nicht mehr sichtbar sind, zu Staub geworden. In diesem Buch ist alles sterblich, auch der es schreibt. Aber in den großen Dichtungen sind die Menschen, ob sie nun im Zentrum oder an den Rändern erscheinen, nicht sterblich, sondern, wagen wir das Wort, unsterblich. Unsterblich sind Hermann und Dorothea, der Freiherr von Risach, Claudio oder der Schwierige, die junge Magdalen im Apostelspiel, unsterblich sind Wallenstein, Penthesilea, Rudolf der Zweite oder Erny, und seit Jahrtausenden bleibt Nausikaa, seit Jahrhunderten sind Beatrice, Cordelia, Mignon, die Prinzessin im „Tasso“ unsterblich. Diese Erkenntnis tröstete mich, ja, sie hob die Traurigkeit der Enttäuschung auf. Ich reiche sie allen denen weiter, die wahre Dichtung lieben. Wohl fürchte ich, daß die meisten Figuren der Romane und Dramen, die jetzt nur geschrieben, nicht gedichtet werden, sterblich sind. Denn Analyse löst ja auf, führt zur Zersetzung, zur Verwesung. Und mehr als Analyse oder, wie man zu sagen pflegt, Tiefenpsychologie kennen heute die Schriftsteller kaum, sofern sie es nicht vorziehen, ohne Begründung die direkte, die schonungslose Aussage zu gebrauchen.

So habe ich das einst und dennoch immer noch geliebte Dichtwerk auf seinen Platz in der Bücherreihe zurückgestellt und an seiner Statt „Der Tag des jungen Arztes“ von Hans Carossa für meine nächtliche Lektüre gewählt. Darin ist alles schön, auch darum, weil es wahr ist. Und seine Menschen, sogar die Patienten, die der Arzt von ihrem Tod nicht retten kann, haben jenes ewige Leben.

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