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Digital In Arbeit

Zehn Grundsätze des Übersetzens

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Ubersetze nur das, was du selbst in der Sprache des Originals entdeckst, als Kunstform beispielgebend oder wegweisend, als Mitteilung wichtig oder notwendig erkennst. Deine Verantwortung wird schwerer zu tragen sein, aber die Früchte deiner Arbeit werden gewichtiger gedeihen. (Es macht wenig Spaß, auf den Auftrag des Verlegers zu warten; es ist bedenklich, fremden Pioniertaten blindlings nachzuhinken.) Suche, finde und befinde selbst.

Übersetze nur Originale, niemals Nachgeahmtes, Gefälschtes, Beiläufiges. Meide Gängiges. Gutes behält seine Geltung allemal.

Beginne mit der Übersetzung nicht, bevor dir das Original genügend vertraut ist; sein Gegenstand, seine Form und seine Absicht, seine Vor-und Nachgeschichte. Auch nicht, bevor du über den Autor ausreichend im Bilde bist

Bevorzugt Zeitgenossen. Das ist schwieriger: von lebenden Autoren kann man zur Rechenschaft gezogen werden — Tote wehren sich kaum. Mit Lebenden muß man auch das Honorar teilen. (Den Ruhm nehmen sie sowieso ganz für sich in Anspruch.) Auch die Vorteile überwiegen. Die Quellen der Sprache, der Zeit und ihrer Realien sind dir nicht unzugänglich, die Aufgabe nicht unzumutbar, der Autor nicht unerreichbar. Sprich mit ihm über alles. Auch das Belangloseste. Du ersparst einer ganzen Armee von künftigen Literarhistorikern Nachforschungen, Arbeitsstunden und Streitigkeiten. Gegenwärtiges ist greifbar, nachweisbar, unumstößlich. Und es liegt immerhin näher, mit den Lebenden zu leben als mit den Leichen.

Wer eilt, kommt schneller ans Ziel. Aber in welchem Zustand? Die Eile ist eine Sache der Technik. Organisches bedarf seiner Zeit. Es läßt sich zwar treiben, aber nicht beschleunigen. Arbeite also langsam (ohne den Ehrgeiz aufzugeben, Erster zu sein). Uberprüfe dich ständig — Skepsis und Bescheidenheit sind gute Geister. Sei stets unsicher: das erzeugt Wachsamkeit, Vorsicht, Nachsicht, Besonnenheit. Traue nie deinem Gedächtnis, noch weniger dem Wörterbuch.

Halte deine Übertragungen nie für vollendet. Laß sie liegen, gewinne kritischen Abstand und kehre dann wieder zu ihnen zurück: du wirst sehen, wie vieles man noch besser machen kann.

Non sordidi lucra causa ... Mit dem ersten Gedanken an den materiellen Vorteil, an das Verdienen, schwindet die letzte Möglichkeit der immateriellen Vorteile, der Verdienste. Das Honorar ist ein falsches Kriterium. Nicht „wegen“, sondern „trotz“ solltest du übersetzen. Der Trotz spornt den findigen Flug an und fördert die Begabung (auch die Einnahmen).

Übersetze nichts „im Auftrag“, sondern alles „in eigener Sache“.

Schaffe einen neuen Übersetzertypus (nicht den eines devoten Nachäffers, nicht den des arroganten Besserwissers): deinen eigenen, den dir gemäßen. Sei im Umgang mit dem Autor Partner und Freund; anpassungsfähig, aber nicht bis zur Selbstaufgabe; eigenwillig, aber nicht bis zum Starrsinn.

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