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Zu viele Doktoren

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Die letzten Entwicklungen auf dem Währungssektor haben in der Bundesrepublik Deutschland das Unbehagen an den angekündigten Reformen begreiflicherweise noch verstärkt. Der Rücktritt eines Finanzministers, zumal dann, wenn er so expres- sis verbis mit sachlichen Meinungsverschiedenheiten begründet wird wie im Fall Alex Möllers, läßt unwillkürlich nach den Kabinettskollegen aupschauen, mit denen er sich nicht zu verständigen vermochte. Dabei zeigt es sich, daß nicht so sehr der Nachfolger und Erbe — der nichts zu lachen hat — den Finanzminister der sozialliberalen Koalition in die Resignation getrieben hat, wie es Kabinettsmitglieder waren, in deren Ressort die versprochenen großen Veränderungen fallen.

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Die letzten Entwicklungen auf dem Währungssektor haben in der Bundesrepublik Deutschland das Unbehagen an den angekündigten Reformen begreiflicherweise noch verstärkt. Der Rücktritt eines Finanzministers, zumal dann, wenn er so expres- sis verbis mit sachlichen Meinungsverschiedenheiten begründet wird wie im Fall Alex Möllers, läßt unwillkürlich nach den Kabinettskollegen aupschauen, mit denen er sich nicht zu verständigen vermochte. Dabei zeigt es sich, daß nicht so sehr der Nachfolger und Erbe — der nichts zu lachen hat — den Finanzminister der sozialliberalen Koalition in die Resignation getrieben hat, wie es Kabinettsmitglieder waren, in deren Ressort die versprochenen großen Veränderungen fallen.

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In nicht nur menschlich verständlichem, sondern sogar liebenswertem Ehrgeiz haben die Bundesminister Leber, Ertel und Leussink weitsichtige Programme aufgestellt, von denen sie keine Abstriche zulassen wollen; auch die Ministerin für Familie und Gesundheit, Frau Strobel, weiß gute Gründe für ihre Pläne vorzubringen. Nun zweifelt kaum jemand an der Unvermeidbarkeit großer Ausgaben für den Straßenbau, für die Rettung des noch verbliebenen Bauernstandes, den Ausbau der Kliniken und Krankenhäuser. Nicht so überzeugt ist die große Masse der Deutschen in der Bundesrepublik von Reformen, die, wie man deutlich fühlt, nur auf Kosten des Lebensstandards möglich sein werden, im Bildungssektor, Reformen, bei denen es ja nicht nur um die Gründung und den Ausbau von Hochschulen und anderen Lehranstalten geht, sondern um die Vor- wegnahme von Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur, mit der die meisten gar nicht so unzufrieden sind.

Besonders durch Leussinks Pläne müßten dem privaten Konsum durch Steuererhöhungen sehr große Summen entzogen werden. Die personelle Ausweitung im Bildungsbereich erfordert überproportionale Kostensteigerungen. Die Zunahme der Studentenzahlen engt das ohnehin überbeanspruchte Arbeitskräftepotential noch mehr ein, damit auch die hinter Löhnen und Preisen herhinkende

Produktivität. Man munkelt von dem Wirtschafts- und Finanzminister vorliegenden Zahlen, die nur noch nicht veröffentlicht worden seien.

Naturgemäß wenden sich die Studienanfänger nicht instinktiv den Berufen zu, in denen sie wirklich gebraucht werden. In einigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ist jetzt schon zu sehen, daß, auch wenn sie zu einem Hochschulabschluß gelangen, kaum Posten für sie zu finden sein werden; vor allem gilt das für Politologen, Soziologen und Psychologen, mit denen Behörden, Verbände und Betriebe bereits übersättigt sind. Die zahlreichen neuen Hochschulen bieten nur vorübergehend einen Ausweg in ihrem sogenannten Mittelbau. Auch hier wird der Bedarf einmal gedeckt sein. Manche Professoren sehen in solchen Mitarbeitern auch nicht unbedingt eine Ent-, sondern eher eine zusätzliche Belastung.

So fürchten die deutschen Steuerzahler, die für das alles aufzukommen haben, eine Überproduktion an Akademikern, die zu einem Akademikerproletariat und damit zu einer Anheizung von inneren Unruhen führen müßte. Neun Zehntel aller Abiturienten entscheiden sich noch immer für die Hochschule. Daß diese Zahl in den späteren Semestern durch Ausfälle sehr zusammenschrumpft, wie es immer war und wohl in der Natur der Sache liegt, vermindert nicht die finanzielle Belastung, denn jeder Student belastet die Öffentlichkeit mit vielen tausenden Mark, ob er absolviert oder nicht. Den Weg über die Fachhochschulen oder die Ausbildung innerhalb der Berufstätigkeit gehen nur wenige. Die vorzeitig Ausscheidenden bleiben kaum von einer gewissen Verbitterung verschont, die wachsend zur Explosivität der Situation beiträgt.

Gegen die Ausbildung im Betrieb und auf den Berufsschulen, deren Besuch bis zum 17. Lebensjahr obligatorisch ist, werden von Studenten und Älteren Klagen erhoben, die sicherlich nicht immer aus der Luft gegriffen sind. Immerhin ergab eine Umfrage der Industrie- und Handelskammer des Saarlandes, daß 70 Prozent der Befragten mit Ihren während der Berufsaubildung erworbenen Kenntnissen zufrieden waren. Von der Berufsschule dachten nur 60 Prozent so gut. Von den in der Propaganda hochgespielten „ausbildungsfremden“ Tätigkeiten blieb nicht viel übrig. Nur 1,4 Prozent erwähnten Autowäschen und Straßen- fagen, 9 Prozent ausbildungsfremde Hilfsarbeiten im Betrieb, 7 Prozent Besorgungen für Arbeitskollegen, zwischen 3 und 4 Prozent Reinigungsaufgaben im Betrieb, Mithilfe im Haushalt, Botengänge und Außendienst. Als „ausbildungsfremd“ wurde allerdings auch die Beschäftigung mit Vorarbeiten für die automatische Datenverarbeitung in einer kaufmännischen Berufsausbildung bezeichnet. In diesen Kreisen ist demnach die Anziehung einer akademischen Tätigkeit nicht so stark wie unter den Abiturienten.

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