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Digital In Arbeit

Zwei Fahnen flattern im Wind von Osten

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Eine Stunde beträgt diesmal nur die Wartezeit. Es ist Festzeit in der CSSR, und schon die Grenze präsentiert sich in vollem Flaggenschmuck. Der 1. Mai mit seinen Jubeldefilees ist vorüber - der 9. Mai steht bevor. Flaggen, Plakate und Exponate in den Schaufenstern kombinieren sehr rationell beide Anlässe: Jubel über die Arbeit und über die Befreiung. Auch in den Flaggen wiederholt sich das doppelte Spiel: Blau-weiß-rot zur Linken, rot mit Hammer und Sichel zur Rechten. Die CSSR präsentiert sich als das einzige Land der Welt, in dem' zwei Nationalflaggen zugleich in Geltung sind.

Samstag, Sonntag und dann, am Montag, eben die Befreiung - drei arbeitsfreie Tage. Das Defizit an kirchlichen Feiertagen wird so einigermaßen wieder gutgemacht. Slowaken, Mähren und Tschechen bebauen ihr Stück Eigenland, basteln an ihren Häusern, reparieren ihre Wagen oder gehen ins Grüne. Nichts besonderes, sehr bürgerlich und friedlich schaut das aus.

Eine Dame in Brünn hat jeden Morgen die Aufgabe, die eine, die rote Flagge vor dem Büro, in dem sie tätig ist, von dem zu reinigen, was nächtliche Besudelung angerichtet hat. Ihr eigenes Haus hat sie nicht beflaggt, weil sie sonst beide Fahnen hissen müßte. Ihre Kinder kommen mit Stößen von Illustrierten nach Hause, die dort schnellstens verbrannt werden: Sowjetische Soldaten in brüderlicher Umarmung mit böhmischen Mädchen, mit Kindern auf starken Armen - geschehen Anno 1945. Seither ist viel Wasser und auch viel Blut die Moldau hinabgeflossen, und der 9. Mai als Feier zu Ehren der Roten Armee ist ein Würgetrank, den keiner ohne Übelkeit herunterzuschlingen vermag.

Inzwischen hat sich für die Bürger dieser sowjetischen Provinz der Vorhang des Schweigens auch in Sachen „Charta 77“ gesenkt. Wochenlang zog man die Hauptverantwortlichen durch den Schmutz, heftete ihnen an, was nur immer dar Parteivokabular an Missetaten vorsieht - und dann war schlagartig Ruhe. Die Diskrepanz zwischen Verschweigen dessen, was in der Charta tatsächlich, geschrieben wurde und dem Diffamieren der Verfasser war zu offensichtlich und weckte mehr, als den Verantwortlichen lieb sein kann: Neugier und Informationshunger. Das neueste Stück der Charta-Schreiber zum Thema Religionsverfolgung ist aber sogar gut informierten Leuten im Lande noch nicht zu Ohren gekommen.

Der Rest von Zeitungen, den die Zöllner nicht beschlagnahmt haben, wird sorgfältig zwischen Portiers, Kellnern, Freunden und Verwandten aufgeteilt. Das Märlein, das eine Agentur verbreitet hat, demzufolge man zukünftig hie und da westliche Publikationen in der CSSR kaufen könne, entpuppt sich in drei tschechischen Großstädten rasch als Ente. Drei kümmerliche Parteiblättchen aus Frankreich, Großbritannien und New York - das ist alles. Als „Ersatz“ bringen neuerdings manche Illustrierte mehrseitige Erzählungen und Reportagen in russischer Sprache. Der Geß- lerhut wird immer größer. Zwei Fahnen flattern im Wind, und der Wind kommt von Osten.

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