"Nur ein Placebo in der bildungspolitischen Diskussion“

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Bringt die Zentralmatura mehr Fairness? Muss in der Schule selektiert werden? Der deutsche Bildungsexperte Christian Füller über seine Außensicht aufs österreichische Bildungssystem. Das Gespräch führte Veronika Dolna

Der deutsche Journalist Christian Füller ist Autor verschiedener Bücher über gute Schulen in einem schlechten Schulsystem. Für die FURCHE wirft er einen Blick nach Österreich.

Die Furche: In Österreich wurde die Zentralmatura um ein Jahr verschoben. Was halten Sie von einheitlichen Abschlussprüfungen?

Christian Füller: Ein derartig zersplittertes Abitur aufzuräumen und eine gemeinsame Prüfung einzuführen, hat natürlich einen Effekt. Dann gibt es eine gemeinsame Benchmark und Vergleichbarkeit. Gerade in einer Zeit, wo Eltern darauf erpicht sind, dass ihre Kinder Matura machen, fragt man: Wie kann es sei, dass die Prüfung bei uns anders ist als am Nachbargymnasium? Dass die Wogen in bildungspolitischen Matura-Diskussionen hochgehen, ist klar: Die Matura ist historisch der Zugang zu höheren Studien, zu Medizin, zu Juristerei. Das ist nicht nur mit Idealen verbunden, sondern auch mit handfesten Interessen. Trotzdem ist die Reform der Matura ein Placebo in der Diskussion: Nur eine bestimmte, relativ kleine Schicht ist davon betroffen. Aber es wird mit größter Hingabe gestritten. Dabei wird verschleiert, was wirklich wichtig ist.

Die Furche: Und zwar?

Füller: 27 Prozent der 15-jährigen Österreicher können nicht sinnerfassend lesen. In manchen Regionen sind es noch mehr. Sind uns diese Kinder wichtig? Hängen wir ein Fünftel bis ein Drittel aller Schüler einfach ab? Das kann sich ein staatliches Schulsystem nicht leisten.

Die Furche: Ein selektives Schulsystem produziert eben auch Schüler, die herausfallen. Kann man überhaupt nicht selektieren?

Füller: Ein Bildungssystem ist immer mit Auslese verbunden, die Frage ist aber, zu welchem Zeitpunkt. Muss es mit zehn Jahren sein? Es kennt doch jeder 15- oder 20-Jährige, bei denen der Groschen später fällt. Die Finnen betreiben natürlich auch Auslese, aber da fällt nicht mit zehn der Hammer, der entscheidet "Du kriegst Abitur - oder eben nicht.“ Alle modernen Schulsysteme in Korea, Kanada, Finnland, Singapur zeigen, dass eine so frühe Auslese nicht sein muss. Man kann gemeinsam unterrichten. Das heißt nicht, dass es keine Eliten mehr gibt. Auch in Finnland gibt es Risikoschüler, aber auch 21 Prozent Top-Schüler. Diesen Wert schaffen wir nicht annähernd, trotz unserer Elitetrainingsanstalt, genannt Gymnasium.

Die Furche: Auf wessen Kosten geht das?

Füller: Auf die Kosten von allen. Deutschland gehen die Hochqualifizierten aus, es gibt demografische Veränderungen. Wie soll ein Land, das so lange rumkämpft, um das Abitur zu verändern, ein fluides Bildungssystem schaffen, das sich dem 21. Jahrhundert anpasst? Und natürlich leiden die Bildungsverlierer noch mehr, die Kinder aus einkommensschwachen Familien. Ein deutscher Schuldirektor hat das mit dem Begriff "Hartz-4-Schule“ deutlich gemacht. Er meinte, er sehe sich gezwungen, seine Schüler auf den Sozialhilfebezug vorzubereiten. Wenn ich Bildung nicht reformiere, nicht öffne, nicht jedes Talent fördere, dann passiert das zu Lasten einer sich zementierenden armen Schicht - und der ganzen Gesellschaft.

Die Furche: In Österreich brechen jedes Jahr 7500 Jugendliche die Schule ab. Das Risiko ist fünf Mal so hoch, wenn die Eltern bildungsfern oder arbeitslos sind. Was muss die Politik dem entgegenhalten?

Füller: Erstens muss man die Gliederung des Schulsystems überdenken. In Berlin hat man Gesamt-, Real- und Hauptschulen zu einer integrierten Sekundarstufe zusammengelegt, in der auch das Abitur angeboten wird. Die Anmeldezahlen dort sind extrem hoch, es wandern sogar Schüler aus Elitegymnasien ab. Zweitens muss man gezielt in die Brennpunktschulen hinein, in die "Unterschichtsfabriken“, wo 80 Prozent Risikoschüler sind. Da müssen Sozialarbeiter und Sonderschullehrer hin, da muss eine andere Form von Unterricht her. Es gibt Erfolgsbeispiele wie die Berliner Rütli-Schule, wo Staat und Stiftungen viel investieren. Aber was ist mit den anderen 49 Hauptschulen in Berlin?

Die Furche: Dem gegenübersteht ein Boom bei Privatschulen. 8,3 Prozent der Kinder sind es momentan. Welchen Effekt hat das?

Füller: In einem Land, das sich mit dem Gymnasium eine Quasi-Privatschule für eine Schicht leistet, gilt das Argument, schlicht nicht, dass Privatschulen unfair sind. Natürlich muss man aufpassen, dass nicht die Hälfte aller Schüler in Privatschulen geht und die Schulen machen können, was sie wollen. Aber für verkrustete Systeme wie in Deutschland oder Österreich sind Privatschulen tolle Labore, um Neues auszuprobieren. Sie können sich schneller bewegen, haben die Möglichkeit, anders Schule zu machen. Ich bin dafür, dass man die privaten den staatlichen Schulen gleichstellt: Genau so viel Geld für die privaten, genauso viel Freiheit für die staatlichen. Und die privaten müssen mindestens 20 Prozent Hartz-4-Kinder nehmen. Dann sollen sie im positiven Sinn konkurrieren.

Die Furche: Sind Leistung und Chancengleichheit ein Widerspruch?

Füller: Nein, Leistung ist ein wichtiger Begriff für Chancengleichheit. Schließlich geht es bei Bildung ja darum, lesen, schreiben und rechnen zu lernen und auf die Welt vorbereitet zu werden. Heute würde ich das noch um den Begriff Computer- und Netz-"literacy“ erweitern. Das heißt, Schulen müssen Kindern das Handwerkszeug für einen kritischen Umgang mit dem Netz beibringen. Leider können Schulen das bislang überhaupt nicht. Nicht jedes Kind muss Klavier spielen. Aber jedes muss die Chance haben, Klavier spielen zu lernen.

Die gute Schule

Wo unsere Kinder gerne lernen, Von C. Füller, Beltz 2010. 296 Seite, kartoniert, e 12,95

Ausweg Privatschulen?

Was sie besser können, woran sie scheitern,

Von C. Füller, edition Körber-Stiftung 2010.

273 Seite, broschiert, e 16,00

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