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Xaver Bayer treibt in seinen "Versuchs- anordnungen", in Beklemmenden und faszinierenden Erzählungen die figuren in äusserste grenzerfahrungen.

"The horror, the horror!" lauten die vieldeutigen letzten Worte des skrupellosen Handelsagenten Kurtz in Joseph Conrads berühmter Novelle "Herz der Finsternis", in der eine Flussfahrt zur Metapher für eine psychologische Reise in menschliche Abgründe wird, und jenes existenzielle Grauen ist auch in Xaver Bayers Erzählband "Die durchsichtigen Hände" allgegenwärtig.

Mit wenigen Strichen gelingt es dem jungen österreichischen Autor, der unlängst mit dem renommierten Hermann-Lenz-Preis ausgezeichnet wurde, atmosphärisch ungeheuer dichte Situationen zu entwerfen, Versuchsanordnungen (so auch der Untertitel der Erzählung "Wie man seine Box zum Verschwinden bringt"), in denen die Protagonisten spielerisch in äußerste Grenzerfahrungen getrieben werden. Oft bleibt der Kern der Geschichte ausgespart, stets das Ende offen - und die vordergründige Pointe stellt sich bloß als Finte des Autors heraus. Also zurückblättern und nochmals lesen!

Subtile Geschichten

"Als dann allmählich das ständige Zirpen der Grillen verstummte, wälzte sich mit der nun immer rascher voranschreitenden Dämmerung auch etwas anderes, Großes, Unruhiges über den Wald und den Fluss, und das erste Mal auf dem ganzen Weg hatte ich das Gefühl, nicht allein zu sein, und ich hielt aus eigenem Willen inne und drehte ganz langsam meinen Kopf, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen, um endlich zu sehen."

So endet beispielsweise die Erzählung "Wasserfall", doch wäre es völlig verfehlt, hier das Verdikt "Horror Fiction" zu fällen: Bayers Geschichten sind viel subtiler gebaut, denn das Grauen erwächst aus den Figuren selbst - blutrünstige Schattenwesen hätten hier keinen Platz. So besteht das eigentlich Irritierende und Angst Einflößende in erwähnter Geschichte in dem Umstand, dass während der Flusswanderung nach und nach alle Personen der bunt gemischten Gruppe - Gewinner eines Preisausschreibens! - spurlos verschwinden, ohne dass dies jemand bekümmern würde. Dieses völlig irrationale Verhalten wird in den lakonischen Worten des Ich-Erzählers auch keineswegs hinterfragt, er strebt seinem Ziel entgegen, ohne es freilich zu erreichen: bezeichnende Parabel auf die Mentalität einer rücksichtslosen Ellbogen-Spaßgesellschaft.

Pfeifen im finsteren Wald

Eine Konstante durch die Texte bildet eine gewisse oberflächliche Teilnahmslosigkeit des stets männlichen Protagonisten. Doch darf man sich hiervon nicht täuschen lassen, vielleicht wirkt zum Beispiel jener Seitenblicke-Partygast ja nur deshalb so unbeteiligt, weil er gerade mit seinen mörderischen Gewaltphantasien ringt (treffender Titel dieses psychologischen Kabinettstücks: "Der Innenhof des Komplexes") und oft ist die äußere Gleichgültigkeit nur Konsequenz eines moralischen Totalversagens ("Der Nichtsdestotrotzraum"). "Man könne sogar lachen, dass man so voll Bangen ist." Dieser Satz findet sich im vorangestellten Zitat aus Paul Scheerbarts phantastischem Asteroidenroman "Lesabéndio" (aus dem sich auch der Titel herleitet), doch gleicht dieses verzweifelte Lachen angesichts der "Rätsel des Lebens" dem Pfeifen im finsteren Wald.

Die komplexeste Geschichte ist zugleich jene, in der der Autor vom Schema der Ich-Erzählung abweicht; es handelt sich um die anfangs erwähnte "Versuchsanordnung": Ein Proband wird gezwungen, sein Leben neben einer Box zu verbringen, in die er nicht hineinschauen kann und über deren Inhalt er demnach im Ungewissen bleiben muss, "mutmaßlich bis zu seinem Ableben", wie der gottähnliche Versuchsleiter nicht anzumerken vergisst.

Bewohner einer Box

Kurz gefasst hat der Proband nur zwei Möglichkeiten, die Box in seinen Alltag zu integrieren: Ihr mit gespielter Gleichgültigkeit zu begegnen oder sie zum Objekt religiöser Verehrung zu erklären. Beide Haltungen sind fragwürdig "und der Drang nach Erkenntnis … ein unerfüllbarer". Und dann greift der Autor zum Matroschka- Trick, indem er die Boxen vervielfacht und den Probanden selbst zu Bewohnern einer solchen erklärt - hier beißt sich Schrödingers Katze quasi selbst in den Schwanz.

"Als 08/15-Lösung auf ebener Erde und beim Balancieren auf den Simsen von Wolkenkratzern hat sich die Einhaltung des Gleichgewichtssinnes bewährt. Die diesbezüglichen Waagschalen heißen Zweifel und Demut. Alles andere ist in unseren schwachen Augen faule Mode, Kitsch oder Folklore … Oder anders gesagt: Es gibt keinen Notausgang aus der Box."

Höchst beklemmend und faszinierend!

Die durchsichtigen Hände

Erzählungen von Xaver Bayer

Jung und Jung 2008

168 S., geb., € 19,80

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