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Das Mab heibt nicht: Formular

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Von einem Rundgange zu schreiben, ist eigentlich symbolisch. Denn, wollte man wirklich die Hauptstelle und Landesstelle Wien — unter der Adresse: Blechturmgasse ein weitbekannter Begriff — mit den zugehörigen Dienststellen, wie Rentenliquidatur, Anweisung, Statistik, fachärztliche Begutachtungsstation, Beitragsabteilung, Quittungskartenverwaltung, Auslandsgruppe, Vormerkungs- und Sondergruppe, Rentenantragsteile und so fort auf einem Gange besuchen, reichte ein Tag nicht aus. Neun Dienststellen befinden sich im fünften, drei im ersten und je eine Stelle befindet sich im siebenten, fünfzehnten und vierten Bezirk Wiens — zu den Landesstellen Graz, Linz, Salzburg (mit den Außenstellen Innsbruck und Bregenz) müßte man weitere Fahrttage opfern. Der Raum in der Blechturm-gassc — als Untermietobjekt der AngestelltenVersicherungsanstalt — reicht für die Vielfalt der Arbeit nicht mehr aus. In ungefähr zwei Jahren soll nächst der Roßauer Kaserne die Anstalt ein eigenes Haus bekommen, wo alle heute in Wien verstreuten Dienststellen vereinigt sein werden.

Gegenwärtig beträgt das Budget der Allgemeinen Invalidenversicherung (AIVA) über zwei Milliarden Schilling und liegt nach Bund und Gemeinde Wien an dritter Stelle. Die Anstalt vereinigt 1,250.000 Versicherte und zahlt gegenwärtig beiläufig an 425.000 Personen Renten aus. Im Februar 195 5 sind für das Gebiet Wien-Niederösterreich-Burgenland allein genau 3974 Neuanträge gestellt worden. Die jederzeit präsent gehaltene Aktenlage kann mit rund einer halben Million beziffert werden. Der Rentenaufwand hat im November 1954 (ohne die Wanderversicherungsrechnung: das sind jene Gruppen, die zuerst Arbeiter, dann Angestellte oder umgekehrt waren) rund 86 Millionen, die Ernährungsbeihilfen 61,6 Millionen und die Wohnungsbeihilfen 8,3 Millionen Schilling betragen. Dazu kommt der Aufwand für Altersfürsorge-, Invaliditäts-, Witwen- und Waisenrenten mit rund 156 Millionen Schilling. Der Betrag für die Heilverfahren ist dabei nicht berücksichtigt.

Halten wir uns einmal an diesem wichtigen Punkte auf. Man darf nämlich nicht außer acht lassen, daß es das Bestreben des Versicherungsträgers ist, vorzeitige Invalidität zu verhüten, bereits eingetretene Leiden zu bessern und dadurch dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit zu eröffnen, wieder oder in erhöhtem Maße erwerbstätig zu werden. Der Belag in den achtzehn eigenen und fremden Kuranstalten hat im November 1954 (also zu einer erfahrungsgemäß schwachen Frequenzzeit) 750 Personen mit 20.772 Verpflegstagen betragen. Bis 2500 Betten stehen für Heilzwecke bereit.

Die Mitwirkung des Arztes geht weiter. Ist der Versicherungsfall eingetreten, wird ein Gutachten auf wissenschaftlicher Gründlage erstattet. Wir haben graphische und tabellarische Aufstellungen ebenso in die Hand genommen, wie wir bei den Untersuchungsgeräten (darunter einem neuen .Elektrokardiographien) standen und durch das Mikroskop blickten. Wir gingen durch die Warteräume, wo die Parteien auf den Ruf warteten. Mit dem gegenwärtig zur Verfügung stehenden äußerst beschränkten Raum ist beispielsweise- in der fachärztlichen Begutachtungsstelle ein hohes Maß an Leistung erreicht worden. Diese Untersuchungsstelle hat im Jahre 1951 mit zwei Internisten angefangen. Heute sind unter den 22 Fachärzten neun Internisten. 1952 hat der Untersuchungsdurchschnitt 1,9 je Rentner, 1954 schon rund fünf Untersuchungen betragen (100.000 ärztliche Untersuchungen im Jahre 1954). Immer wird darauf Bedacht genommen, daß der Mensch das Maß auch in Dingen der Rente ist und nicht das nun einmal, leider, nötige (und oft durch den Auslandverkehr vermehrte) Formular. An erster Stelle in der Morbiditäts-, Mortalitäts- und Invaliditätsstatistik stehen die Kreislauforgane (32 Prozent), und ein erheblicher Teil der Herzerkrankungen wird durch das Rheuma hervorgerufen, dessen Ausbreitung höchster Beachtung und wirksamster Maßnahmen bedarf (in Baden bei Wien wird eine Rheuma-Heilanstalt erstehen). Nach der Gruppe der Kreislauf Organe kommt Krebs. Tuberkulose ist — als Invaliditätsursache — an die dritte Stelle (als Todesursache an vierter Stelle nach Herzgefäßerkrankungen, Krebs und unspezifischen Erkrankungen der Atmungsorgane) gefallen. Die Qualitätsgutachten der Beratungsstation kommen um ein Drittel billiger als ein auswärtiges. Grundsatz für die gesamte Arbeit war der Verein, das Team; dieses tritt in jedem einzelnen Versicherungsfall zusammen und berät aus der Perspektive des Spezialfaches über das Unteilbare, das der Mensch, seine Gesundheit und damit sein soziales Schicksal bedeuten.

Diese angeführte Teamarbeit, die für jeden Rentenwerber mindestens eine Stunde Untersuchungszeit aufwendet, ist die erste dieser Art in Europa, die Einrichtungen werden auch oft von ausländischen Studiengästen besucht.

Vielleicht ist es an dieser Stelle nötig, einmal darauf hinzuweisen, daß das kleine Oesterreich auch sozialpolitisch eine gewaltige Last trägt. Wir haben, wie mit anderen ausländischen Staaten, auch mit Westdeutschland Rentenverträge; es ist aber kaum bekannt, daß die Aufwendungen hierfür nahezu ausschließlich von Oesterreich bestritten werden; daß wir für die Angehörigen jener Länder, die hinter der politisch bedingten Abschließung liegen, wie die Tschechoslowakei, Ungarn, Polen, die DDR. aber sogar das Baltikum, sorgen — ohne daß uns von diesen Ländern etwas vergütet wird. Hier wäre — ganz abseits der rein politischen Staatsvertragsverhandlungen — der Platz für einen Vertrag über das Recht des Rentenempfängers, seinem Willen gemäß, zu leben. Hier mögen die Delegierten, ehe sie vors Mikrophon treten, an diesen Schaltern, wo der kleine Mann und die kleine Frau um den Rest ihrer Lebenstage zittern. Hier mögen sie auch einen Beweis des guten Willens für ein friedliches Europa ablegen.

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