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Lehre und Lehrwerkstätte

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Wenn der Charakter des Menschen auch weitgehend anlagebedingt ist, so wird doch sein Einordnungsvermögen in die herrschende Gesellschaftsordnung entscheidend davon beeinflußt, ob in den Entwicklungsjahren die guten Anlagen geweckt und gefördert werden. Kein Jugendlicher ist mit 14 Jahren innerlich gefestigt und gereift und bedarf deshalb nicht nur einer fachlichen Ausbildung, sondern in gleicher Weise auch einer Fortsetzung der Erziehung.

Die Erfahrungen der letzten Jahre haben zur Genüge die Gefahren einer erzieherisch nicht ausreichend betreuten Jugend gezeigt und an den Folgen werden der Staat wie die gesamte Öffentlichkeit noch lange tragen müssen. Der erzieherische Einfluß der Schule hört gänzlich auf, denn die wenigen Schulstunden der Fortbildungschule sind weitgehend durch fachliche Ausbildungszwecke beansprucht und könne erzieherischen Maßnahmen kaum dienen. Dazu iockert das Elternhaus seinen Erziehungseinfluß auf den Jugendlichen in dem Gedanken, daß der Bursch doch nun selbständig sein müsse. Außerdem darf der Lehrlting für gewöhnlich einen Teil seines Verdienstes als Taschengeld behalten, kann darüber frei verfügen und genießt auch sonst verschiedene Freiheiten, die seinen gleichaltrigen Kameraden, die etwa die Mittelschule besuchen, niemals gewährt würden.

So bleiben auf den Jugendlichen in der Lehre ganz natürlich jene Einflüsse besonders wirksam, welche die weitaus überwiegende Zeit des Tages einnehmen: der Meister, die Gesellen, die Kameraden. Da ist nun der Arbeitsplatz zum Haupterziehungsfaktor für den Lehrling geworden. Dies bedeutet aber vielfach einen großen Verlust für die Erziehung, der gerade in den Entwicklungsjahren, auch einen solchen von moralischen und ethischen Werten darstellt, beim künftigen Handwerker- und Facharbeiterstand auf keinen Fall entbehrt werden darf.

Der Handwerkerstand hatte hier eine große und lohnenswerte Aufgabe zu erfüllen. Ein Blick in die Vergangenheit beweist. daß er sich dieser Aufgabe bewußt war und große Erfolge erzielt hat. Freilich waren früher die Fälle Regel, daß der Lehrling vom Meister in Kost und Quartier genommen wurde und die Erziehungspflicht klar vor Augen lag. Aber auch heute ist der Jugendliche den Erziehungseinflüssen des Lehrbetriebes durchaus zugänglich. Nicht di feierlichen Belehrungen, auch nicht diä Ge- und Verbote und schon gar nicht Strafen, sondern das wirkliche Leben der Erwachsenen, ihr Beispiel durch die Tat, sind die wahren und echten Erziehungsmittel. Nur allzu getreu nimmt die sooft der mangelnden Erziehbarkeit bezichtigte Jugend in sich auf, was ihr die Erwachsenen an Erziehung bieten. Die handwerkliche Lehre verfügt über das idealste Erziehungsmittel: das vorgelebte Leben. Deshalb ist die handwerkliche Lehre der Lehrwerkstätte unbedingt vorzuziehen. Heute ist leider der Ausbildungswille der Meister neben anderen Umständen auch durch eine Reihe von Maßnahmen, wie eine relativ hohe Lehrlingsentschädigung, 44-Stunden-Woche, verlängerter Urlaub usw., stark gehemmt. Dies gilt vor allem von den kleineren Handwerksbetrieben, die oft schwer um ihre Existenz ringen und kaum mehr in der Lage sind, allen diesen Anforderungen gerecht zu werden. Daher muß die Forderung nach staatlichen Lehrwerkstätten noch stärker diskutiert werden. Eine Untersuchung hat ergeben, daß die Zahl der Lehrlinge im Handwerk nahezu konstant geblieben ist, während die verstaatlichten Betriebe ihre Lehrwerkstätten stillgelegt haben oder deren Kapazität nur in geringem Umfang ausgenützt wird.

Natürlich verdient bei diesen Fragen auch die der wirtschaftlichen Rentabilität beachtet zu werden. Die Errichtung einiger hundert Lehrwerkstätten würde eine außer-, ordentlich hohe Summe beanspruchen, mit deren Hilfe ebenso viele produktive arbeitende Betriebe eingerichtet werden könnten. Außerdem müßten die Gehälter für qualifiziertes Lehrpersonal bezahlt werden, die gleichzeitig dem. produktiven Einsatz in der Wirtschaft entzogen werden. Ebenso fiele der überwiegende Teil der produktiven Kräfte von drei Jahrgängen des Facharbeiternachwuchses aus. Denn selbst bei grundsätzlicher Ausbildung an produktiver Arbeit wird der Arbeitserfolg weitgehend hinter dem Erwerbsbetrieb Zurückbleiben und wohl nicht mehr aufbringen als das Äquivalent für die Lehrlingsentschädigung.

So gesehen, ist diese Frage heute zu einem ernsten Problem geworden, dem man wünschen möchte, daß es aus dem Stadium der Diskussion zu einem seriösen Versuch käme, der den heutigen Forderungen und der wirtschaftlichen Lage angemessen ist.

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