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Wirtschaftskommentar

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ln der Gegenwart, als Folge einer Dynamisierung im Wechsel der technisch-organisatorischen Berufs- und Arbeitsbilder, fehlt es weithin an ersetzbarem Bildungskapital, personifiziert in geeigneten Fachkräften. Anderseits wächst aber die Neigung zur Bildung, zur beruflichen Weiterbildung ebenso wie zur Grundbildung. Nach bundesdeutschen Feststellungen hat der Wille zur Ausbildung bereits den dritten Rang in der Skala der langfristigen Wünsche der Bevölkerung erreicht (vorher noch rangieren der Wunsch nach einem stabilen Geld und nach gesicherter Altersversorgung). Freilich konnten in der BRD trotz einem statistisch angezeigten hohen Bildungswillen im Zeitraum 1964/65 nicht weniger als 42,2 Prozent der angebotenen Lehrstellen für Burschen (bei Mädchen 39,5 Prozent), insgesamt 265.000, nicht besetzt werden, zum Teil eine Spätfolge des Krieges, eher aber einer unzureichenden Abstimmung zwischen Nachfrage (nach Arbeitskräften) und der ihr entsprechenden spezifisch-fachlichen Nachfrage.

Dazu kommt: Ein Großfeil der Menschen übt den in anerkannten Lehrberufen und (oder) in berufsvorbereitenden Schulen erlernten Beruf später im Erwerbsleben entweder überhaupt nicht aus oder mufj im Beruf selbst völlig umlernen (zirka 30 Prozent der Bundesdeutschen). Die Folge ist eine starke zwischenberufliche und innerberufliche Mobilität. Die progressive Dynamik in der Entwicklung der technischen und organisatorischen Verfahrensweisen hat jedenfalls und unvermeidbar dazu geführt, daß viele Menschen ihre Berufskenntnisse nicht oder nur unzureichend in Einkommen umsetzen können und in Gefahr kommen, trotz eines erlernten Berufswissens, mangels Anwendungschancen für dasselbe, Handlangerdienste verrichten zu müssen. Die neuen Verfahrensweisen der Produktion sind zudem durch eine fortschreitende Intellektualisierung (angezeigt in einer wachsenden Verbeamtung) gekennzeichnet. In den entwickelten Ländern soll der Zuwachs an wissenschaftlich tätigen Arbeitskräften bereits an die 7 Prozent p. a. befragen. Man nimmf an, daß am Ende dieses Jahrhunderts etwa 20 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus Wissenschaftlern bestehen wird. Nach Hinweisen von Prof. Dkfm. Seidel (Institut für Wirtschaftsforschung) wird auf Basis englischer Schätzungen für die Periode 1961/70 der Bedarf an Hilfsarbeitern auf die Hälfte absinken, während anderseits der Bedarf an naturwissenschaftlich-technisch gebildeten Arbeitskräften um 20 Prozent ansteigen soll.

Da die Wandlungen der Berufsstruktur eine existentielle Bedrohung für einzelne Arbeitnehmer und das Fehlen ausreichend („up to date") gebildeter Arbeitnehmer eine Gefährdung der Marktposition verschiedener Unternehmungen darstellt, wird jetzt (vorläufig) in der BRD ernstlich das Problem der Weiter- und Anpassungsbildung der Arbeitnehmer erörtert. Das Programm sieht einerseits öffentliche Förderung vor und auf der anderen Seite die Gewährung eines zusätzlichen und vom Arbeitgeber zu bezahlenden Urlaubes (= Bildungsurlaub). Volkswirtschaftlich wie einzelwirtschaftlich geht es um eine Qualitätsanreicherung des Faktors Arbeit, der qualitativ kaum mehr erheblich expandieren kann, es sei denn mittels des Instrumentes der Überstunden.

Die Methoden:

1. In der BRD kennt man in der beruflichen Weiterbildung zwei Methoden:

die Aufstiegsförderung, die vor allem bei Ungelernten (etwa Frauen) erforderlich ist, und die Leistungsförderung, die im allgemeinen zu einer Lohnerhöhung auf gleicher Stufe führen soll („Up-to- date-Programm").

Für die berufliche Weiterbildung wurde in der BRD ein Sondervermögen von 560 Millionen D-Mark geschaffen („Leistungsförderungsgesetz 1965“), aus dem je Jahr 50 Millionen zum Zweck der Berufsförderung gewidmet werden sollen. Der Befrag wird vor allem verwendet, um Personen, die einen unbezahlten Bildungsurlaub bekommen haben, durch angemessene Zuschüsse ihren Lebensunterhalt zu sichern. Vom Juli 1962 bis Dezember 1965 sind in der BRD 51.000 Personen im Rahmen der individuellen Aufstiegsförderung öffentlich unterstützt worden (Kostenpunkt 100 Millionen D-Mark).

2. In Österreich ist von der Arbei- ferkammer und der Katholischen Sozialakademie eine von den beiden genannten Institutionen finanzierte Vollzeitbildung für Erwerbstätige organisiert worden. Die berufliche Weiterbildung kann auch im einzelnen Betrieb erfolgen, wenn die entsprechenden Einrichtungen und Lehrkräfte vorhanden sind, oder außerhalb der Arbeitszeit (also in der Freizeit) in spezialisierten Instituten, wie sie zum Beispiel in Österreich von den einzelnen Landeskammern der gewerblichen Wirtschaft oder vom ÖGB geschaffen worden sind.

3. Zu einer driften Form beruflicher Weiterbildung soll der oben erwähnte Bildungsurlaub werden, der als ein unbezahlter oder bezahlter (ähnlich dem Krankenurlaub) zweckgebundener Urlaub verstanden wird, welcher außerhalb des Gebührenurlaubs gewährt wird.

Gegenstand der Diskussion ist eigentlich der Bildungsurlaub.

Die Probleme des Bildungsurlaubs sind komplex.

Wenn ein Betrieb die Weiterbildung seiner Arbelifnehmer durch Lohnfortzahlung finänziert, hat er keineswegs die Sicherheit, daß der Arbeitnehmer nicht nach Aneignung neuer beruflicher Kenntnisse Lohnforderungen stellt. Das hieße jenes neue Bildungskapital, das auch mit finanzieller Hilfe des Arbeitgebers erworben wurde, von diesem nochmals in Form einer Lohnerhöhung bezahlen, also amortisieren lassen. ,

Wer garantiert dem Unternehmen, welches den Bildungsurlaub gewährt, daß ein leisfungsgeförderter Arbeitnehmer das ihm während des Sonderurlaubs angebotene Berufswissen verinnerlicht und in bessere Arbeitsleistungen übersetzt? Die Umsetzung des gebotenen Berufswissens in Berufskenntnisse setzt anderseits neben einem praxisnahen Lehrplan der Frage kommenden Bildungseinrichtungen auch pädagogische Eignung voraus.

Was ist, wenn der leistungsgeförderte Arbeitnehmer kündigt? Bedeutet das nicht, daß sein Unternehmen durch Gewährung und Honorierung des Bildungsurlaubs die Konkurrenz gefördert hat?

Wer wählt die Weiterzubildenden aus — oder soll die Initiative beim einzelnen Arbeitnehmer liegen?

Das Pro und Kontra in der Sache Bildungsurlaub als einer drastischen Form der Bildungsförderung soll nicht Anlaß sein, zu übersehen, daß sich die Berufsstrukturen in einem permanenten Wandel befinden und jeder Versuch, diesem Wandel angepaßfe Maßnahmen zu ergreifen, zumindest einer Diskussion wert sind. Armut ist heute vielfach Index eines unzureichenden Berufswissens. Das gilt auch für die relativen Versorgungsdistanzen, die zwischen armen und reichen Völkern bestehen. Weithin sind die Distanzen zwischen Einkommensreichen und Einkommensarmen auch Anzeiger von Unterschieden in der situationskonformen beruflichen Ausbildung.

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