Denkmäler der Scheußlichkeit

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Ein schonungsloser Egyd Gstättner läßt kein gutes Haar an Wien und seinen Institutionen. Ein Vorabdruck aus seinem neuen Roman, zweiter und letzter Teil.

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Ein schonungsloser Egyd Gstättner läßt kein gutes Haar an Wien und seinen Institutionen. Ein Vorabdruck aus seinem neuen Roman, zweiter und letzter Teil.

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Ich bin kein Lieber, ich war leider wieder nicht ironisch. Ich habe auch in Wien wenig Grund für Heiterkeit gefunden: Ein bißchen Litfaßsäulenlyrik auf den Litfaßsäulen, die Innenstadtpferdefuhrwerke, die permanent Verkehrsstaus verursachen, und die vielen Auffahrunfälle, die von den von Pferdefuhrwerkspferden gelassenen Pferdeäpfeln verursacht werden, oder der Donaukanal, an sich ein Denkmal der Scheußlichkeit und Grauenhaftigkeit, wo die Stadtverwaltung ein Schild mit der Aufschrift "Schifahren verboten!" aufgestellt hat - und alle Wiener halten sich daran. Aber sonst überall nur Deprimation, Niedergeschlagenheit, Niedergeschmettertheit. Wenn ich die Triesterstraße schon sehe, diese unglaubliche Gemeinheit Triest gegenüber. Den Franz-Josefs-Kai! Den Mariahilfer-Gürtel! Favoriten, Hütteldorf, Hernals. Wem da nicht übel wird. Den öden Schönbrunner Zoo mit den öden Gabelschwanzracken, Zwergagutis und Goldkopflöwenäffchen! Den Naschmarkt mit dem Naschmarktgestank! Die Taubstummengasse! Allen Ernstes die Taubstummengasse. Die Wiener allein halten es noch für einen philantropischen Geniestreich, die Taubstummengasse Taubstummengasse zu nennen. Gerade, daß ich keinen Psychosenplatz und keinen Lungenkrebsweg gefunden habe.

Wie jede Großstadt ist Wien in jeder Hinsicht durch und durch vergiftet. Die Wiener argumentieren, daß Köln noch viel vergifteter als Wien ist, London noch viel vergifteter als Köln und Tokyo noch viel vergifteter als London. In Shanghai stinkt es rund um die Uhr nach Fisch, in Jaunde werden Unvorsichtige von Elephanten zertrampelt, in Berlin werfen verwahrloste Berliner ihre Kinder aus den Wolkenkratzerfenstern. Aber ich kann doch nicht allen Ernstes am Südbahnhof aussteigen, relativ tief durchatmen und in einer völligen Witzlosigkeit sagen: Wunderbar: In Tokyo ist noch viel mehr Gift! Wunderbar: Es stinkt nicht nach Fisch! Wunderbar: Niemand wirft Kinder aus dem Fenster. Wunderbar: Niemand wird von Elephanten zertrampelt. Wunderbar. Wien ist anders.

Hunderttausende düsterer Häuser, in denen Millionen düstere Menschen mehr oder weniger hoffnungslos zusammengepfercht sind und eigentlich nur darauf warten, endlich beerdigt zu werden; Millionen Düsterlinge, die immer matter werden und sich mit letzter Kraft gegen den allgemeinen Substandard und dagegen wehren, genauso grau und viereckig und würfelförmig zu werden wie ihre Wohnschachteln und Arbeitsschachteln, aber die Viereckigwerdung und Würfelförmigwerdung der Wiener ist nur eine Frage der Zeit, dem Wiener ist seine baldige Würfelförmigwerdung ins genetische Programm eingeschrieben, ein nichtendenwollender Menschenauflauf in einem nichtendenwollenden Häuserauflauf, das kann dauern, bis da alles aufgefressen ist. Tatsächlich wollen die Wiener genaugenommen unter die Erde, in Wien ist es unter der Erde schöner als über der Erde, Ubahnstation Taubstummengasse, sehr einladend. Im Erdgeschoß eine quadratkilometerweite kratzbesenartige Restnatur oder überhaupt schon die Kombination von kompletter Naturlosigkeit mit kompletter Kulturlosigkeit, eine in Apathie und Resignation und Niedergeschlagenheit liegende Ziegelsteinschachtelwüste, bis auf zwei, drei Bezirke eine Stadt ohne Jahreszeiten, eine im Ganzjahresnovember gefangene Stadt. Ganz Wien ist voll von Bräunungsstudios und Sonnenstudios. Weil die Häuser so schwarz und so hoch und so eng beieinander sind, ist praktisch im gesamten Wiener Parterre die Wiener Sonne seit Jahreszeiten vollständig durch Sonnenstudios ersetzt. Die Wiener, die schon in Köln waren, sagen, in Köln gibt es noch viel mehr Sonnenstudios. Dann fahren die Wiener mit der Ubahn zur Lichttherapie, von der Lichttherapie wieder mit der Ubahn zurück, und es ist völlig aussichtslos.

Am hinterlistigsten ist das vermeintliche kulturelle und politische Staatszentrum, der Erste Bezirk, der aufgeblasene Herzeigehäuserhaufen, auf den die ganze Welt hereinfällt und der mit angeberischen, unverschämt teuren und völlig heruntergekommenen Kaffeehäusern durchsetzt ist, die auf den Speisekarten mit ihren toten Kaffeehausdichtern hausieren gehen und in denen die Wiener ihrem albernen Kaffehauskulturabsitzen nachkommen, diesem original altwiener Kaffeehauskulturkramkrampf. Die toten Dichter kann man ja nicht mehr bestellen, und die Schweineschnitzel sind ekelhaft fett und flachsig. An diesen Kaffeehausschweineschnitzeln sind schon die Kaffeehausdichter zugrundegegangen. Ich kann mir solche Grundwahrheiten ohne weiteres leisten, ich bin weder Bundesphilosoph noch Kommerzontologe. Wien hat aus Freud einen Marzipanfreud und aus Wittgenstein einen Marzipanwittgenstein gemacht, immer neue Größen aus dem Totenreich sind diesbezüglich in Arbeit, und alle tun leidenschaftlich mit. Der Hauptunterschied zwischen den Wienern und den Indonesiern ist die sofortige Vermarzipanisierung ihrer Geistesgrößen, und seien sie noch so widerspenstig und kratzborstig. Der erste Wiener Arbeitsschritt ist die Schweineschnitzelmast, der zweite die sofortige postume Existentialistenmarzipanisierung, der dritte das gemütlich Schimmligwerdenlassen des Marzipans.

Die Paläste der Ringstraßen und innerhalb des Ringes sind mit Ruß überzogen; alles verfällt und verrottet und tut in einer Art morbiden Arroganz so, als verfiele und verrotte es gar nicht, überall Taubstummengasse, die Prunkbauten sind samt und sonders Ruinen. Alles ist durchnäßt, verwittert und schwarzgeworden, und die Autisten von der Bundesgebäudeverwaltung sind alle seit Jahren auf Kur. Wien müßte seit Jahrhunderten einmal frisch gestrichen und generalsaniert, oder besser noch gesperrt und die gesamte Bevölkerung evakuiert werden, die brauchbare nach Bad Ischl, der Rest nach Köln. Man braucht sich doch nur die Staatsoper, wirklich eine Staatsoper, anschauen, die abbruchreife Dreckschachtel. Die jüngste Inszenierung ist hundert Jahre alt und die Bühne wahrscheinlich die ganze Vorstellung hindurch so düster und finster, damit man nicht bemerkt, wie schäbig und zerschlissen die Kulissen und Requisiten schon sind. Optisch gesehen kann mit der Staatsoper jeder Radioapparat konkurrieren. Aber den japanischen Luxusstrebern kann man bekanntlich auch noch die degoutantesten Devotionalien aufschwatzen, solang sie dabei bloß ihren Yen hinauswerfen können. Außerdem ist es sicherheitspolizeilich überaus verantwortungslos, auf der Galerie keine Gurtenpflicht einzuführen.

Oder man schaut dem Parlament zu, wie seine Fassade wegbröckelt. Schon heute besteht die akute Gefahr, daß dahinter die Nationalratsabgeordneten zum Vorschein kommen. Und vor diesem tragikomischen Tropfsteintempel, in dem die auf unheimliche Weise gewählten Bundesblödler und Bundesärgerer aus allen Winkeln und Falten des Bundes zum Bundesblödeln und Bundesärgern zusammenkommen und in dem sich dieser Staat unter der Regie prostituierter politischer Poltergeister in Ausschüssen und Unterausschüssen und Sonderausschüssen weiterwurstelt und ausschießt, bäumt sich jahrein, jahraus ein oxidierender Gaul auf und tut so, als würde er wiehern, das sagt alles. Und schließlich der froststarre, architektonisch verkrüppelte Stephansdom und seine aufdringliche oberösterreichische Glocke. Sein Gemäuer ist unverputzt und finster und feucht zur Freude der Pilze und Insektenwelt, das Kirchenschiff vor lauter sinnloser Höhe für Eierstockundnierenbeckenentzündungen geradezu prädestiniert, nirgendwo ist die Besinnung riskanter. Eine etwaige Erholung der Seele geht automatisch auf Kosten der Eierstöcke. In die Gruft darf man aber nur als Gruppe. Vor jeder zweiten Statue steht "out of order", ohne die Japaner und ihr Fuji-Blitzlichtgewitter würde man überhaupt nichts sehen. Für ein Requiem freilich kein schlechter Platz, wenn man von den Kränen und Betonmischmaschinen in der Seitenkapelle absieht. Und nach dem Requiem sofort zur Lichttherapie. Geht der Herr ein unter sein Dach, gehen die Gläubigen seelenheilgymnastisch in die Knie, senken die Blicke zu Boden und sehen, sobald sie im Halbdunkel des Bodennebels wieder etwas sehen, daß der Boden des Stephansdoms der Boden einer Fischhandlung ist. Shanghai. Auf einer Steinplatte steht die Inschrift "Freue Dich an der Schönheit dieses Gotteshauses, verweile darin in Ehrfurcht und geh nicht weg, ohne den anzubeten, der dich erschaffen und erlöst hat". Aber der mich erschaffen hat nach seinem Ebenbild, der kann mich nicht mehr erlösen. Der mich erschaffen hat, ihm ähnlich, über den ist Erde gehäuft, viel Erde und darauf Rosen, viele Rosen. Mein Schöpfer hat mich verlassen müssen, er ist nicht mehr, er ist erlöst.

Schreckliches Kind Von Egyd Gstättner, Edition Atelier, Wien 1998 (erscheint im September), ca. 128 Seiten, öS 280,

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