Der entrückte Übervater

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Vor 200 Jahren starb George Washington, erster amerikanischer Präsident - zu Lebzeiten bereits eine Legende.

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Vor 200 Jahren starb George Washington, erster amerikanischer Präsident - zu Lebzeiten bereits eine Legende.

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Vor 200 Jahren, am 14. Dezember 1799, starb George Washington. Daß dieser Tag in den USA feierlich begangen wurde, mit öffentlichen Reden, Glockengeläute und einer "Neuinszenierung" seiner Beerdigung am Ort seines Todes, scheint einleuchtend.

Eine andere Frage ist, ob dieser Mann für Europa relevant war und ist. Bekannt ist er, so bekannt wie niemand sonst auf der Welt, weil sein Bild den Ein-Dollar-Schein ziert. Kein Geldschein ist so universal verbreitet wie dieser; keine politische Persönlichkeit ist also durch so viele Millionen Hände gegangen wie George Washington. Zwei kuriose Details am Rande: Auf der Ein-Dollar-Note ist Washington seit 1923 seitenverkehrt abgebildet gegenüber der Vorlage, dem berühmten Porträt von Gilbert Stuart aus dem Jahr 1796; kein Mensch weiß warum.

Washington hat auf Bildern, ja selbst noch auf dem Papiergeld eine verbissene Mundpartie. In seinem Landhaus, Mount Vernon, kann man im Museum ein Paar seiner dritten Zähne sehen. Sie waren aus Holz und verursachten ihm ständige Schmerzen, über die er seinem Dentisten häufig brieflich Klage führte.

George Washington steht am Anfang einer langen Reihe, in der Bill Clinton heute die Nummer 43 darstellt. Geboren 1732, war er ein Zeitgenosse Maria Theresias, Kaiser Josephs II. und Leopolds II., Mozarts und Goethes. Was aber wußte man im späten 18. Jahrhundert in Europa, etwa in der Habsburger Monarchie, über die USA und über George Washington? Europäische Zeitungen aus jener Epoche belegen: Washington war neben dem Erfinder Benjamin Franklin der berühmteste Amerikaner: diese beiden Männer verkörperten die Ideen einer neuen Welt. In seiner Autobiographie "Dichtung und Wahrheit" schrieb Goethe: "Noch lebhafter aber war die Welt interessiert, als ein ganzes Volk sich zu befreien Miene machte. Man wünschte den Amerikanern alles Glück, und die Namen Franklin und Washington fingen an, am politischen und kriegerischen Himmel zu glänzen und zu funkeln."

Integrationsfigur Washington ist noch immer ein Idol für die Amerikaner; seine Zeitgenossen in Österreich, die genannten Kaiser, sind das für uns nicht. In den USA ist es durchaus üblich, daß sich ein Präsident auf den Gründervater beruft. Ein heutiger österreichischer Bundeskanzler, der Maria Theresia oder Joseph II. als Vorbilder nennt - undenkbar. Die Erklärung ist einfach: In Österreich gab es Ende des 18. Jahrhunderts keine Revolution, niemanden, der eine neue Staatsform repräsentiert, wie das bei Washington der Fall ist. Er, der im gleichen Jahr wie Joseph Haydn geboren wurde und später zu Haydns Menuetten tanzte, war der Sohn eines reichen Landspekulanten. Er hatte keine gute Schulausbildung; ein wenig Mathematik eignete er sich selbst an, und schon als sehr junger Mann war er als Landvermesser tätig. Überhaupt neigte er stärker der Praxis zu als der Studierstube. Washington wurde Offizier in der Kolonie Virginia. Seine ersten militärischen Verdienste erwarb er sich im Kampf gegen französische Siedler und gegen Indianer. Er wurde schließlich Oberkommandierender der amerikanischen Streitmächte.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg gegen das Mutterland Großbritannien, als sich der Staat seine erste Verfassung gab, war klar: als Integrationsfigur kam nur der schweigsame George Washington in Frage. 1789 wurde er der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Obwohl sich diese Nation durch einen Krieg von Europa abgenabelt hatte, wußte Washington, daß die Amerikaner die Erben der europäischen Geschichte waren. Sie hatten noch keine eigene Kultur, keine politische Theorie und die Menschen, die das Land erschlossen, waren Europäer. Washington machte in vielen Reden seine Landsleute darauf aufmerksam, daß das amerikanische Experiment in Europa mit wachen Augen beobachtet wurde.

Lebende Legende Schon die Zeitgenossen schreiben über den ersten Präsidenten, er sei wahrlich kein "great and powerful mind" gewesen, also kein überragender Kopf. Wie konnte er dennoch zum Status eines Übervaters aufsteigen? Sein größtes Talent war es, sich mit hervorragenden Leuten zu umgeben. Nie wurde er von dem Gedanken gelenkt: Meine Größe erlaubt keine andere Größe neben mir. Er war kein Präsident zum Anfassen. Während sich hierzulande Joseph II. in Richtung "Volkskaiser" bewegte, das monarchische Selbstverständnis zu republikanisieren suchte, bemühte sich Washington, das Präsidentenamt zu monarchisieren. Damit war auch der Legendenbildung Tür und Tor geöffnet.

Sein erster Biograph Weems schrieb schon 1800 mehr eine Heiligenlegende als die Lebensbeschreibung eines Menschen aus Fleisch und Blut. Auf Trinkgläsern - die übrigens in Liverpool in Großbritannien hergestellt wurden - gab es ab 1802 Gravuren, die die Himmelfahrt des ersten Präsidenten darstellen. Gemälde zeigten George Washington, wie er als General im Schnee kniet und betet, während ihm ein Engel erscheint. Daher nimmt es nicht Wunder, daß viele Amerikaner mehr über Roosevelt oder Kennedy wissen als über den Gründervater: er wurde ins Übermenschliche entrückt.

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