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Ägypten: Zeitreise mit Gegenwartsschock

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Der moderne Massen- und Erlebnistourismus läßt keine Zeit mehr für die Einfühlung in fremde Welten und Kulturen. Welche Zukunft haben anspruchsvolle Studienreisen?

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Der moderne Massen- und Erlebnistourismus läßt keine Zeit mehr für die Einfühlung in fremde Welten und Kulturen. Welche Zukunft haben anspruchsvolle Studienreisen?

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Die auf Kalkstein im Relief eingemeißelten Götter und Könige - viele von ihnen noch farbenprächtig - blicken ernst und stumm auf die unter ihnen vorbeiziehenden Beschauer ... In vielen, ganz oder teilweise erhaltenen Tempeln Ägyptens wiederholt sich täglich dasselbe Bild: Die Besucher bleiben stehen, werden mit lauten Stimmen in verschiedenen Sprachen gruppenhaft belehrt und ziehen dann weiter.

Bei einer genaueren Betrachtung ergibt sich: Diese Götter und Könige auf Tempelwänden blicken nicht zu den Touristen hin. Streng im Profil dargestellt, die eine Schulter stark vorgeschoben, sind sie mit den Blickkontakten untereinander, gelegentlich mit Berührungen, aber immer nur innerhalb ihrer eigenen, abgehobenen Welt befaßt. Warum die Tierköpfe auf den Menschenkörpern? Sind das zu Stein gewordene Totems? Wurden, als man die Sippen und Stämme zu einer Vereinigung zwang, aus deren regionalem und partikularem Erbe tribale Traditionen fixiert und in den Symbolen aus Stein weitergeführt, emporgehoben in die Hochkultur?

Man vergißt in Ägypten, in Afrika zu sein. Doch da trugen und tragen in abgeschiedenen Regionen zum Teil noch heute kultische Tänzer Tiermasken, sei es bei Begräbnissen oder Initiationsriten. Und es verwandeln sich viele Maskenträger auch nach ihrem subjektiven, oft ekstatischem Bewußtsein in Totems. Für die Zeit des Ritus sind die Tänzer Wesen einer anderen Welt. Sie wirken auch so auf alle am Kult Beteiligten. Sie verschmelzen mit der Ehrfurcht gebietenden, nach dem Ende der kultischen Zeremonie wieder versteckten Maske.

Die durch Jahrhunderte reproduzierten, wie eine heilige Schrift festgehaltenen Götter der ägyptischen Hochkultur, enthalten sie Elemente der tribalen Maskentänzer? In der Umwandlung zur repräsentativen Götter-Gestalt, verschmolzen da Maske und Körper zum sakralen Typ, der sich Schritt für Schritt und schließlich über die beiden Reiche von Unter-und Oberägypten verbreitete? Oder sind das nur Spekulationen eines Afrikaforschers, der mit Schauer und Ehrfurcht die Öffnung von Fetischkästen erlebte und zu den im Busch versteckten Fetischhäusern hinschlich? (Der Autor arbeitet seit über 15 Jahren bei den Bambara und bei den Dogon in Mali über die Wirksamkeit von Traditionen im Modernisierungsprozeß Westafrikas; Anm. der Red).

Die alten Ägypter waren keine negroide Bevölkerung. Darf da die afrikanische Perspektive auf Stammeskultur eingesetzt werden, um ein neues Element des Wunders der Entstehung der ägyptischen Hochkultur zu verstehen? Der Reiz bei der Betrachtung der ägyptischen Götterwelt entsteht dadurch, daß die uralten tribalen Voraussetzungen der tierköp-figen Wesen in ihrer Eigenwilligkeit und Vielfalt in einen strengen Form-kanon eingebunden wurden. Dieser Kanon der formalen Darstellung, der wie ausgestanzt wirkt und über die Regionen und Zeiten - viele Jahrhunderte - hinweg in der Struktur weitgehend stabil blieb, übertrifft an Strenge und Kontinuität alle anderen Kulturen der Welt. Kunstwissen und Kunstwollen haben eine magische und heroische Welt zu Bildern und Aussagen gedrängt, eindrücklich zum Sprechen gebracht, in den Sakralräumen für die Priester, in den Vorhallen für das Volk.

Experten-Herrschaft

Die ägyptische Kultur ist eine des Festhaltens, nicht des Wandels. Eine arme Bauernbevölkerung wurde von winzigen Kernen priesterlicher Experten und Königen samt deren Stäben beherrscht, Jahrhunderte hindurch ohne städtische Freiheit und deren intellektuelle Bewegung. Aber die priesterlichen Experten brachten astronomische Berechnungen hohen Niveaus, den heute noch gültigen Kalender und exakte Landvermessung zwecks Errichtung von Bewässerungskanälen zustande. Die hochentwickelte, ausgefaltete Palette fachärztlichen Wissens (und ebensolcher Praxis) der Priester überraschteschon den griechischen „Historiker", den Erforscher des für das frühe Europa Fremden, Herodot. Die ägyptischen Beamten entwickelten eine Literatur der Lebensweisheit und sozial-moralischer Regelungen; Natur- und Liebesdichtung und Hymnik entwickelten sich.

Am stärksten schlugen mir meine afrikanischen Erinnerungen an Fetischhäuser, die man auf versteckten Pfaden, geführt von einem Fast-Verräter erreicht, in einem bestimmten Moment entgegen. Das war, als ich mich an der Westmauer des Tempel-Areals von Karnak (in Theben) kurzfristig vom Touristenstrom isolierte. In einer Nebenkammer des kleinen Ptah-Tempels sah ich im Halbdunkel die löwenköpfige Sechmet überlebensgroß auf einem Thron sitzen, -- souverän, ehrfurchtgebietend. König Thutmosis III., der Nachfolger der wahrhaft imperialen Königin Hatschepsut im 15. Jh. v. Chr., hatte, krank und leidend, eine Vielzahl von Statuen dieser Göttin, so auch im Tempel von Karnak, in der Hoffnung auf Heilung errichten lassen. Diese kleine Kammer verschloß der örtliche Wächter für unsere Gruppe mit einer Holztüre, sodaß der vor Jahrtausenden bestimmte Lichteinfall zur Wirkung kam. In der Stille des Augenblicks wurde in der steinernen Gestalt auf einmal die Suggestion der Götterfigur erfahrbar. Die Göttin wirkte unnahbar aber doch ausstrahlend, als bedürfe sie gar keiner Verehrung, sondern als trüge sie diese schon in sich. Das Religiöse hat sich in Ägypten als Fluidum über Jahrtausende erhalten. Rilke fühlte sich im Tempel von Karnak, wie er schrieb, „am Ziel" angekommen ...

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