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Das Schicksal der Grande Armee

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Augenzeugenberichten als Quelle ist erfahrungsgemäß mit Skepsis zu begegnen, die lebenden Generationen haben es gelernt, was von solchen Berichten über miterlebte Ereignisse als Wahrheit übrigbleibt. Natürlich kommt es bei der Verwertung von Augenzeugenberichten auf deren Qualität an, und man muß dem Herausgeber zugestehen, eine höchst gewissenhafte Auswahl getroffen zu haben, was auch durch das Chronistenverzeichnis bewiesen ist. Der Feldzug von 1812 ist heute noch vielfach rätselhaft, hat doch damals ein gerühmter Feldherr — in manchem ähnlich Karl XII. — eine Niederlage erlitten, die zu den größten der Geschichte zählt. Wenn die Alliierten 1917 bis 1920 in Rußland scheiterten, war vor allem falsche politische Beurteilung der Grund, wenn Hitler 1941 bis 1945 in der Katastrophe endete, erklärt dies das Fehlen fachlicher Bildung. Von den großen Angriffen gegen Rußland ist nur jener der Mittelmächte 1914 bis 1917 bis zur vollen militärischen Niederlage Rußlands ausgereift. Vergleiche anzustellen bleibt stets ein gefährliches Spiel: Napoleon bewältigte von der Weichsel bis Moskau 1500 Kilometer, Hitler vom Bug bis vor Moskau 1100 Kilometer — was sagen aber solche Zahlen? Ein anderer Vergleich sagt mehr aus (Seite 23): Alexander I.

entschloß sich 1812, den Raum auszunützen und dadurch eine schlagfertige Armee zu behalten; Napoleon gestand nach Wagram, er mußte Frieden schließen, weil sich Österreich in seiner Niederlage ein kampffähiges Heer bewahrt hatte. Ohne brauchbare Vergleichsmöglichkeit bleibt Napoleons Rückzug von Moskau in seiner Einzigartigkeit mit dem fast totalen Verlust einer Armee von 600.000 Mann, der die Kälte jedoch nur den Gnadenstoß versetzt hat (Seite 11).

Wer Kriegsgeschichte, Strategie oder hohe Politik studieren will, der greife nach den einschlägigen Fachwerken. Wer aber eine wirklich zutreffende Vorstellung von Ausmaß und Art des Schicksals der Grande Armee gewinnen will, der muß die Augenzeugenberichte lesen, die allein erkennen lassen, wessen der Mensch fähig ist, sei es in Höchstleistungen an Selbstlosigkeit, Pflichtgefühl und Hingabe oder — halb im Wahnsinn, halb in Verzweiflung — in beispielloser Entartung bis zur niedrigsten Bestialität in einem Krieg verwerflichster Art. Das alles ins Gedächtnis zu rufen, ist auch nach 150 Jahren nicht zu spät, und die Augenzeugenberichte von 1812 sollten eine Mahnung sein, welche Grenzen die Lenker der Völkerschicksale nie überschreiten dürfen.

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