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Der ungeschriebene Gotha der Sowjets

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Nicht anders sind die Dinge in der Sowjetunion. Die Söhne und Töchter der unmittelbar aus dem Volk, aus der armen Bauernschaft oder dem städtischen Proletariat auf die höchsten Posten der Parteihierarchie, zu Marschällen oder zu Botschaftern aufgestiegenen Männer führen nicht nur das in der Sowjetpresse so oft scharf kritisierte Leben junger Herren und Damen; sie ehelichen auch in der Regel Partner aus ihren nunmehrigen Kreisen. Es wird, nach dem bisher Berichteten — das wir aus amerikanischen gedruckten Quellen nachkontrollieren können, während in der UdSSR darüber nicht geschrieben noch offen gesprochen werden darf und es nichts in der Art eines russischen Gotha oder auch nur eines sowjetischen „Who's Who?“ gibt — nicht wundernehmen, daß äkere, traditionsgesättigte Demokratien Europas, Frankreich und die Schweiz, nach wie vor sich absperrende Kreise besitzen, die miteinander vor allem genealogisch verbunden sind: den Pariser „Fau-bourg“, den Landadel einzelner Provinzen oder die Berner, Bündner Junker, die Basler, Genfer Patrizier.

Künftige Genealogen werden die dankbare Aufgabe haben, über diese Entwicklung objektiv aussagen zu sollen. In vermindertem Umfang war dergleichen übrigens in den Epochen der strengsten ständischen Absonderung der Fall. Einzelne Glückspilze sind immer wieder auf ihrem feindlichen Terrain emporgeschossen, und Männer, die ihrem Kopf, Ihrer “Feder, ihrem Schwert alles dankten, sind unter die Happy few aufgenommen worden. So die Heerführer des 17. Jahrhunderts, ein Derfflinger, Holzapfel, Aldringer, die Minister des so konservativen Kaiserhofs, ein Thugut und Kübeck.

Was war die Ehe eines an Macht geringen deutschen Fürsten mit einem adeligen Fräulein, das weit zurück keine bürgerlichen Vorfahren hatte, verglichen mit der Heirat des russischen Kaisers Peter des Großen, der eine Marketenderin, die Tochter baltischer Leibeigener, zur Gattin wählte und ihr die Krone des Zarenreiches hinterließ! Durch diese und andere Eindringlinge ist sehr rotes dem gar blauen Blut der Herrscherfamilien beigemengt worden; nur wenige Angehörige der früher regierenden Dynastien Europas sind von derlei nahem „plebejischem“ Erbgut frei, dagegen kein einziger der noch herrschenden Häuser Oldenburg — Schleswig-Holstein — Dänemark (in Dänemark, Norwegen und Griechenland, nebenbei bemerkt künftig auch in Großbritannien), Wettin-Sachsen-Koburg (als Windsor derzeit in England, ferner in Belgien), Mecklenburg (Nassau-Oranien in den Niederlanden) und Nassau (in Luxemburg). Weiter zurück aber besitzen selbst die exklusivsten Fürsten, so der früher genannte Graf von Paris, Vorfahren aus den niedersten Schichten. Schon Ludwig XV. scherzte darüber, daß er — im zehnten Grade — von einem Barbier (Babou) stamme. Italienische Kurtisanen, deren von Herrschern der Renaissance erzeugte Kinder in die Hocharistokratie heirateten, ehrbare deutsche Bürgergeschlechter, die geadelt wurden und deren Nachkommen in Dynastenfamilien heirateten, so die schlesi-schen Sauermann, die Nachfahren südfranzösischer Kaufleute und Bauern, die auf dem Weg über einen spanischen Ehebund ins deutsche Fürstengeschlecht der Reuß hineinragen, sorgen dafür, uns den soziologisch wichtigen Satz zu begründen: auch der Höchstgeborene stammt, freilich in einem erbmäßig unbeträchtlichen Grade, aus den Schichten, die man bis ins 20. Jahrhundert als die niederen bezeichnete.

Der Satz läßt sich nun umkehren: auch der Proletarier, der Kleinbauer hat Vornehme, sogar Fürsten und Könige zu Ahnen. Nur vermögen wir das im einzelnen Falle selten nachzuweisen. Allein Stichproben aus der Schweiz, wo verhältnismäßig das reichste und das breiteste genealogische Material vorhanden ist, zeigen, daß in diesem Land viele Tausende vom Berner Lokalhelden von Adrian v. Bubenberg und von .dessen Schwester Johanna, der Gattin Andreas v. Bonstettens, abstammen; das Geschwisterpaar leitet nun seine Abkunft über die Grafen von Neuchätel, Chälon und die Herzoge von Merai auf die Hohenstaufen zurück, von wo dann der Weg zu allen Kaisergeschlechtern des Mittelalters und zu Karl dem Großen führt. Anderseits verteilt sich die Nachfahrenschaft der Bubenberg über alle Stände; sie umfaßt Adelige, Patrizier, Bürger, Bauern und heute auch städtische Proletarier.

In Norddeutschland hat ein weitverbreitetes Bauerngeschlecht das Blut der Herzoge von Sachsen-Lauenburg aus dem Hause der Askanier in den 'Adern. Dadurch ist für Zehntausende aus dem Volk die Abstammung von Fürsten, Königen und Kaisern gegeben. Dabei haben wir, wie im Falle Bubenberg, vornehmlich die legitime Herkunft im Auge. Fügen wir die blutmäßige Verbundenheit hinzu, die sich um keine ehelichen Bande bekümmert, so haben Herrscherbastarde den Samen der Regenten gewissermaßen über das Land gesät.

So ist. auf dem Gebiet der Gesellschaftskunde doppeltes, wesentlichstes Ergebnis: Blut ist ein besonderer Saft, dessen Bedeutung wir nicht ignorieren und totschweigen können. Anderseits sind alle Menschen Brüder; die nicht hinwegzudisputierenden Grenzen zwischen

Klassen und Nationen waren und sind stets fließend. Denn schon in jener Vorzeit, da Entfernung und scheinbar starre Standesordnung, wie man meinte absolut, die einen Menschen von den anderen trennten, war die Welt, war die Menschheit nur eine. Sollte diese genealogische Erfahrung, als gültigstes Experiment, nicht auch für die Zukunft Richtung und Ziel weisen?

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