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Ein außergewöhnliches Leben

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ERSTER BLICK AUF ADRIENNE VON SPEYR. Von Hans Urs von Balthasar. Johannes-Verlag, Basel, 1968. 227 Seiten.

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ERSTER BLICK AUF ADRIENNE VON SPEYR. Von Hans Urs von Balthasar. Johannes-Verlag, Basel, 1968. 227 Seiten.

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Erster Blick? War Adrienne von Speyr als Verfasserin von Schriften religiösen Inhalts nicht seit langem bekannt? Ja und nein. Wohl lagen bei ihrem Tod (17. September 1967) weit über 30 Bücher vor, die ihren Namen trugen, aber ernstlich befaßt hatte' sich noch selten jemand mit ihnen. Auch die nicht zahlreichen Rezensionen waren eher farblos gewesen. Anfangs erregte dies bei der Autorin leise Verwunderung. Allmählich aber begriff sie, daß es offenbar ihr Los sei, bei Lebzeiten ins Leere zu reden. Soviel allerdings hätte wohl jeder merken müssen, der sich nur einmal die Mühe nahm, etwa einen ihrer Bibelkommentare (die übrigens auch von einem Fach- exegeten wie Kardinal Innitzer sehr geschätzt wurden) besinnlich zu lesen, daß dergleichen nur aus einem wahrhaft kontemplativen Geist stammen konnte. In welchem Maß und in welcher Weise dies aber der Fall war, sollte erst jetzt, nach Adriennes Tod, dadurch offenbar werden, daß Hans Urs von Balthasar, der seit 1940 ihr Beichtvater und Seelenführer war, nun Zeugnis für sie zu geben vermag, Zeugnis für ein charismatisches Mystikerleben ganz großen Formats, das sich vor seinen Augen vollzogen hatte. Er tut es mit diesem „Ersten Blick“, in dem er, nach einer lebensvoll aus nächster Nähe gezeichneten Biographie und einer Übersicht über das gesamte gedruckte und ungedruckte Material ihrer Schriften, eine charakteristische vorläufige Auswahl aus ihrem überaus reichhaltigen Nachlaß vorlegt, darunter Selbstaussagen persönlichster Art und Gebete.

Die Tatsachen, über die berichtet wird, sind der Hauptsache nach folgende: Adrienne von Speyr, so lautete ihr Mädchenname, den sie dann für ihre Publikationen beibehielt, wurde 1902 im französischen Jura, in der kleinen Stadt La Chaux-de- Fonds geboren. Ihr Vater, ein Augenarzt, der aus dem alten Basler Geschlecht der Speyr stammte, hatte dort seine Praxis. Die Eltern waren protestantisch und so wuchs auch sie als Protestantin auf, ohne es doch je so recht gewesen zu sein. Denn schon als Kind führte sie ein ganz persönliches, tief religiöses Innenleben, das sich merklich von dem Geist unterschied, der ihr äußerlich vermittelt wurde. Sie empfand es deutlich und sagte es auch gelegentlich: Gott ist anders. Beachtlich ist auch unter vielem •anderen, daß sie, die Protestantin, schon damals geheimnisvolle Begegnungen mit Heiligen hatte, und zwar besonders mit solchen, die für ihr späteres Leben größte Bedeutung gewinnen sollten, so mit der Muttergottes und mit dem heiligen Ignatius. Aus dem tiefen Verlangen, den Menschen Gutes zu tun, das überhaupt ein Hauptzug in Adriennes ungemein gütigem und liebevollem Wesen war, wurde sie Ärztin und eröffnete in Basel eine vielbesuchte Praxis. Schon zuvor hatte sie einen Witwer mit zwei Kindern geheiratet, und nach dessen Tod ging sie noch eine zweite Ehe ein. Eigene Kinder hatte sie nicht. Bei alledem begleitete sie ständig das Verlangen, die katholische Lehre näher kennenzulemen. Doch nie fand sich eine passende Gelegenheit dazu. Erst 1940, als sie Hans Urs von Balthasar begegnete, kam es zum Konvertitenunterricht und noch im gleichen Jahr zur Konversion.

Sehr bald darnach setzte eine wahre Flut von mystischen Gnaden ein. Einmal, als sie aus der Ordination nach Hause fuhr, sah sie ein großes Licht und hörte eine Stimme, die ihr sagte: „Tu viveras au ciel et ä la terre.“ Und tatsächlich führte sie fortan, mitten in der Welt, ein ganz dem Himmel zugehörendes, tief kontemplatives Leben, dessen innerstes Geheimnis vom „Suscipe“ des heiligen Ignatius und dem „Fiat“ der Muttergottes her bestimmt war. Es war ein Leben vollkommener, bis ins letzte hinein vollzogener Hingabe, eim restloses Sich-zur-Verfügung-Stellen für alle Anliegen Gottes und der Kirche. Und Gott nahm Adrienne beim Wort. Immer mehr wurde ihr Dasein nun zu einem bis zum äußersten durchgestandenen großen Sühneleiden, dem auch das sichtbare Zeichen der Stigmen nicht fehlte, die später allerdings wieder verschwanden. Auch ihr aktiver Einsatz für die Sache Gottes gewann nun vollends den Charakter des Wirkens im Bewußtsein eines höheren Auftrags. Nur von hier aus ist dann ihre Gründung eines Säkularinstituts in Basel zu verstehen, dessen Mitglieder, gleich ähr selbst, kontemplativ und tätig in einem sein sollten. Und nur von hier aus versteht sich auch die Fülle ihrer Bücher, die sie aber zum großen Teil nicht eigenhändig schrieb, sondern in einem Zustand innerer Versenkung diktierte. Hans Urs von Balthasar hat diese Diktate mitstenographiert und für die teils sofortige, teils spätere Veröffentlichung vorbereitet. Er ist überzeugt, daß es sich dabei um ein echtes Charisma gehandelt hat, das Adrienne von Speyr im Hinblick auf die heraufkommende krisenhafte kirchliche Situation gegeben war. Doch liegt es ihm völlig fern, diese Auffassung anderen aufzudrängen oder gar dem Urteil der Kirche damit vorgreifen zu wollen. Worauf es ihm ankommt, äst lediglich, die gesamte Dokumentation für die Kenntnis des Lebens und Werkes dieser ungewöhnlichen Frau bereitzustellen, deren äußeres Bild von nie versagender Güte und Fröhlich keit geprägt war, einer Fröhlichkeit, die sie auch dann nicht verließ, als schwere Herzkrankheit und Diabetes, verbunden mit nicht minder schwerer Arthritis und einer allmählich fast vollständigen Erblindung ihr Dasein zu einem wahren Martyrium machte.

Noch im heurigen Heibst soll eine leider nur bis zum 24. Lebensjahr reichende Selbstbiographie erscheinen, die sie im Auftrag Urs von Balthasars verfaßt hat. Andere biographische Aufzeichnungen liegen besonders in den von ihm geführten Tagebüchern vor. Man wird diesen und den anderen im „Ersten Blick“ in Aussicht gestellten weiteren Veröffentlichungen aus dem Nachlaß Adrieiine von Speyrs mit großem Interesse emtgegemsehen dürfen.

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