"Habe an die 3.000 Menschen getauft"

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Eigentlich stand Lorenz Gawol schon vor seiner Pensionierung. Aber dann folgte der Berliner Krankenhausseelsorger einem Anruf Gottes und wurde Seelsorger für die in Kasachstan verstreut lebenden Katholiken. Im Folgenden seine Eindrücke aus einer uns recht fremden Welt.

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Eigentlich stand Lorenz Gawol schon vor seiner Pensionierung. Aber dann folgte der Berliner Krankenhausseelsorger einem Anruf Gottes und wurde Seelsorger für die in Kasachstan verstreut lebenden Katholiken. Im Folgenden seine Eindrücke aus einer uns recht fremden Welt.

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die furche: Sie waren Pfarrer und dann Dekan der Berliner Krankenhäuser. Mit 62 Jahren sind Sie nicht in den Ruhestand gegangen, sondern nach Kasachstan. Warum?

Lorenz Gawol: Als 1991 Bischof Werth aus Nowosibirsk den Berliner Kardinal Sterzinsky besuchte, bat er ihn nicht nur um humanitäre, sondern auch um personelle Hilfe. Er hatte für die flächenmäßig größte Diözese der Welt weniger als zehn Priester. Der Kardinal sagte dann bei einer Priesterkonferenz, es gäbe viele Menschen in Sibirien, die ihr Leben lang keinen Priester erlebt haben. "Wenn sich jemand gerufen fühlt, lasse ich ihn ziehen."

die furche: Und Sie fühlten einen Ruf?

Gawol: Es geht im Leben eines Christen nicht immer nur um eigene Vorstellungen, sondern darum: Ruft Gott? Ja oder nein? Auf die Worte von Kardinal Sterzinsky hin wurde ich sehr unruhig. Ich habe mir das überlegt, und dem Kardinal geschrieben, ich sei bereit, einige Zeit nach Sibirien zu gehen. Aber er sagte: "Warten Sie. In zwei Wochen kommt der Bischof von Kasachstan." Bischof Lenga sagte mir dann, in Kasachstan würden noch mehr Wolgadeutsche leben als in Sibirien, ich solle doch nach Kasachstan kommen. Dafür entschied ich mich.

die furche: Sie gingen in ein entlegenes Dorf im Norden Kasachstans. Was haben Sie dort vorgefunden?

Gawol: Deutsche Dörfer, von denen es vor zehn Jahren noch viele gab. In Tonkoschurowka fand ich Aufnahme in einer Familie und konnte den Aufbau der Gemeinde und des Gotteshauses betreiben.

die furche: Sind Sie mit dem Klima, den hygienischen Bedingungen zurecht gekommen?

Gawol: Was die Kälte betrifft, wusste ich, dass Tonkoschurowka Temperaturen bis -40 Grad aufweist. Ich war mit der naiven Vorstellung dahin gegangen, zehn Grad minus sei ganz schön schlimm, aber 20 oder 30 Grad minus sei keine wesentliche Steigerung mehr. Das hat sich als großer Irrtum herausgestellt. Ab -26 Grad fahren die mit Diesel betriebenen Autos nicht mehr. Manchmal wurde über Radio verkündet: "Heute darf kein Fahrzeug das Dorf verlassen." Was das Fehlen von Wasserleitung und Kanalisation betraf, tröstete ich mich damit, dass diese Dinge Errungenschaften der letzten 200 Jahre sind. Alle Menschen, die vorher gelebt haben, mussten auch ohne diesen Komfort auskommen.

die furche: Wie leben denn die Menschen in Kasachstan?

Gawol: Sie haben in den Zeiten unter Breschnew ein gewisses wirtschaftliches Niveau erreicht. Vieles davon ging wieder verloren. In Tonkoschurowka gab es früher Schweineställe mit 13.000 Schweinen. Jetzt werden nur noch privat ein paar Schweine gehalten. Wenn in den letzten Jahren auch noch der Strom gefehlt hat, wenn Hausfrauen darauf warten mussten, dass nachts um zwei vielleicht das Licht wieder angeht, um dann aus dem Bett zu springen und die Waschmaschinen anzuwerfen, ist das eine deutliche Minderung der Lebensqualität.

die furche: Wie geht es kasachischen Familien?

Gawol: Sie haben einen größeren Zusammenhalt, als wir ihn kennen. Drei Generationen gehören normalerweise zusammen. Bis vor zehn Jahren gab es auch viele Kinder. Heute ist das anders. Ich denke an eine junge Frau, die mir sagte: "Pater, in dieser wirtschaftlichen Situation kann man doch nicht verantworten, Kinder in die Welt zu setzen." Viele erhalten ihre Gehaltszahlung mit mehrmonatiger Verspätung, andere bekommen überhaupt kein Geld in die Hand, sondern Futter für die Tiere und was sie sonst für den Unterhalt brauchen.

die furche: Der letzte Pfarrer wurde 1929 aus Tonkoschurowka vertrieben. Gab es dort noch gläubige Katholiken?

Gawol: Die Wolgadeutschen dort hatten eine kleine Holzkapelle gebaut. Dieser kleine Kirchbau wurde 1936 von Komsomolzen verwüstet. Das geschah auch mit den Kreuzen in den Wohnungen. Leute haben mir noch Flaschen gezeigt, in denen sie Reste von zerschlagenen Christusdarstellungen aufbewahrten. Die haben sie in die Flaschen getan, Wasser darauf getan und gesagt: Das Kreuz war gesegnet, der Segen wird auf das Wasser übergehen. So haben sie sich Weihwasser gemacht. Mit wechselnder Beteiligung haben sie den Rosenkranz gebetet, in der Bibel gelesen. Sie haben ihre Toten mit Gebet zu Grabe geleitet und es gab immer ein paar Großmütter, die die Kinder am Monatstag ihrer Geburt getauft haben. Mit wenigen Ausnahmen sind fast alle getauft. Die Glaubensunterweisung war aber verboten.

die furche: Wie haben Sie das kirchliche Leben neu organisiert?

Gawol: Zunächst bin ich in ein Haus mitgegangen, in dem sich ungefähr 40 Erwachsene und zwei Kinder versammelt haben. Sie fragten: "Dürfen wir den Gottesdienst so halten, wie wir das immer machen?" Ich sagte: "Ja." Dann haben sie den Rosenkranz gebetet, und nach dem ersten Gesätz hat die Vorbeterin, die an einem Tisch saß, auf dem Kreuze und Heiligenbilder standen, Weihwasser genommen und die Leute damit besprengt. Dazu haben sie gesungen. Ich habe mich gefragt, was das für ein Lied sei, bis ich erkannte: Die singen ja das lateinische "Asperge me", zwar mit einigen Fehlern, aber erkennbar. Das hat mich begeistert. Bald war das Einfamilienhaus zu klein. Dann haben wir uns sonntags im Klub versammeln dürfen. Ich habe zwei Gottesdienste gehalten, bei denen zusammengerechnet über 100 Leute gekommen sind.

die furche: Sie betreuen auch noch andere Orte ...

Gawol: Es begann damit, dass mir aus einem 250 Kilometer entfernten Ort ein Mann schrieb, er habe gehört, ich sei hier in Tonkoschurowka. Ob ich bereit sei, auch einmal in sein Dorf zu kommen? Er werde mit einem Auto kommen, mich holen und wieder zurück bringen. Am Montag der Karwoche brachte er mich in sein Dorf, wo wir Gottesdienste gefeiert haben und es viele Taufen gab. Mehr solcher Kontakte ergaben sich nach und nach, bis ich dann von der Deutschen Bischofskonferenz ein Fahrzeug bekam, mit dem ich viele Menschen systematisch monatlich besuchen konnte. Jetzt gibt es zwölf Dörfer, in die ich jeden Monat einmal fahre, im Sommer, von April bis Oktober. Vorletzte Woche kamen mehr als 500 Leute (60 Prozent Kinder) zu diesen Katechesen und Vorträgen, die ich wegen meiner geringen Russisch-Kenntnisse mit Dolmetscher halte.

die furche: Wie wichtig ist für Ihre Arbeit Hilfe aus dem Westen?

Gawol: Die Kirche hat drei große Aufgaben: Gottesdienst, Glaubensverkündigung und Caritas. Diese drei Dinge konnte ich, Gott sei Dank, dank der Hilfe vieler Freunde gut verwirklichen. Ich nenne hier nur meinen Freundeskreis aus Berlin, die Kolpinggruppe aus Bochum und die Franziskanerinnen von Vöcklabruck. Die Menschen sehen, dass der Pater nicht nur etwas aus der Bibel vorliest, sondern auch bei der Bewältigung des Alltags zu helfen versucht. In Tonkoschurowka sagte eine Ärztin: "Sie haben das halbe Dorf angezogen." Das ist natürlich übertrieben, aber die Kirche konnte dank der Hilfe aus Deutschland und Österreich doch wirkungsvoll helfen. Besonders geholfen hat mir das internationale Hilfswerk "Kirche in Not/Ostpriesterhilfe" mit seinen Kinderbibeln in russischer Sprache. Wenn ich in ein Dorf fahre, fangen wir an mit der Begrüßung, mit Gesprächen. Dann beten wir den Rosenkranz, der zum Pflichtprogramm aller Gottesdienste hier gehört. Dann kommt die Messfeier. Mitunter ist während des Rosenkranzes Gelegenheit zur Beichte. Da habe ich mich gefragt, was davon eigentlich von einem solchen Besuch hängen bleibt. Ich habe das erste Mal 1992 den Kindern von Tonkoschurowka beim Martinsfest gesagt: "Ich weiß, der Nikolaus wird jedem Kind, das aus der Kinderbibel mit eigenen Worten einen Bericht über die Geburt Christi schreibt, eine Tafel Schokolade geben." Damals haben sich 80 Kinder beteiligt. Im nächsten Jahr waren es sogar 123. Ich bin sehr dankbar, dass ich von "Kirche in Not" diese wunderschönen Kinderbibeln in ausreichender Zahl hatte. In einer Schule, in der ich dreimal Vorträge halten durfte, sagte mir die Direktorin: "Unsere Kinder wissen schon mehr über die Bibel als über die Oktoberrevolution."

die furche: Sie haben vor, in absehbarer Zeit nach Deutschland heimzukehren. Welche Erfahrungen nehmen Sie mit?

Gawol: Die wesentliche Erfahrung, dass die Frohbotschaft allen Völkern verkündet werden soll. Ich habe an die 3.000 Menschen getauft. Ich denke, dass ich mit der Hilfe Gottes vielen den Weg zur Bibel, vielen den Weg zu den Sakramenten eröffnet habe.

Das Gespräch führte Michael Ragg.

Zur Person: Als Missionar bei den Wolga-Deutschen Am 6. August 1929 in Brandenburg geboren, wird Lorenz Gawol kurz vor Kriegsende noch als Volkssturm-Jugendlicher ausgebildet, er kommt aber wegen Erkrankung nicht mehr zum Einsatz. Um einer Verhaftungen durch die Rote Armee zu entgehen, wechselte er 1947 nach Westberlin, wo er 1948 maturiert. Lorenz Gawol studiert Theologie und wird von Bischof Wilhelm Weskamm in Berlin zum Priester geweiht. In Westberlin wirkt er zwölf Jahre lang als Kaplan. 1966 setzt ihn Alfred Kardinal Bengsch als Pfarrer der Neubaugebietsgemeinde St. Markus in Berlin-Spandau ein. 1986 wird Lorenz Gawol Krankenhausdekan für alle Häuser in Westberlin und anschließend für die ganze Diözese Berlin. Am 1. November 1991 beurlaubt ihn Georg Kardinal Sterzinsky für die Seelsorge der Wolga-Deutschen in Nordkasachstan. Dort baut Gawol in zwölf Dörfern katholische Gemeinden auf und gründet die erste katholische Schule Kasachstans. Seit 1999 amtiert Gawol als Generalvikar in der Hauptstadt Kasachstans, Astana.

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