Werbung
Werbung
Werbung

Vor einem Jahrhundert lernte der Mensch fliegen. Das veränderte die Welt, aber auch die Literatur. Unter den ersten Augenzeugen von Ohnmacht und Größenwahn: Franz Kafka und Gabriele d' Annunzio.

Der Wunsch des Menschen, fliegen zu können, ist alt, die Verwirklichung dieses Traumes sehr jung. 1891 sprang - mit Flügeln aus Weidenruten, bespannt mit Baumwollstoff - der Ingenieur Otto Lilienthal 15 Meter durch die Luft. Fünf weitere Jahre lang noch übte er das Fliegen - bis er schließlich aus 15 Metern Höhe abstürzte, sich den Halswirbel brach und tags darauf starb. Er blieb nicht der einzige Verunglückte. Doch Tote und Verletzte machten die Realisierung des Traums nicht rückgängig und innerhalb weniger Jahre jagte ein Rekord den nächsten: 1908 führten die Brüder Wilbur und Orville Wright bereits öffentliche Schauflüge durch und am 25. Juli 1909 flog Louis Blériot auf einem Apparat eigener Bauart zum ersten Mal über den Ärmelkanal. Blériot wurde nicht nur von der internationalen Presse als Held gefeiert, sondern ging als Symbol für den Anbruch einer neuen Zeit in die Geschichte ein. Mit dem Fliegenkönnen war tatsächlich mehr passiert als dass nun ein paar Verrückte den Gesetzen der Schwerkraft zu widerstehen schienen.

Das volle Ausmaß der Auswirkungen dieser technischen Revolution auf zukünftige Verkehrswege - und damit auf Geschwindigkeit überhaupt -, auf Kriegsführung - immerhin begannen bald die ersten Bombardierungen aus der Luft - und nicht zuletzt auf Menschenbild und Weltanschauung wurde aber sicher erst im nachhinein deutlich. Gab es zunächst noch schöne Träume wie den Otto Lilienthals, dass nämlich die Fliegerei in Zukunft alle Grenzen überflüssig machen und den ewigen Frieden bringen werde, waren bald schon eher Gefühle des Größenwahns und der Allmacht prägend. Daran änderten auch heldenhafte Abstürze nichts. Durch das Abheben des Menschen von der Erde änderten sich seine Perspektiven.

Luftfahrt und Literatur

Die Literatur interessierte sich von Anfang an für die Vorgänge in der Luft. Sie spiegelte in höchst unterschiedlicher Form die Faszination wider, die die neue Technik auf die Literaten ausübte. Am deutlichsten sichtbar wurde der Einfluss der neuen technischen Errungenschaften wohl bei den sogenannten Futuristen, die sich rund um Filippo Tommaso Marinetti gruppierten, der in seinem futuristischen Manifest 1912 das Aufbegehren gegen Traditionen kundtat und für eine neue Ästhetik der Geschwindigkeit eintrat. Marinetti fingierte in seinem Manifest, er sitze im Flugzeug, und 200 Meter über den mächtigsten Fabrikschornsteinen Mailands fliegend, wäre ihm die lächerliche Nutzlosigkeit der alten, von Homer geerbten Syntax und das Gefängnis des lateinischen Satzbaus aufgefallen. Die neue Sprache sollte der Technik des Fliegens entsprechen. Besungen wurde aber auch eine Liebe zur Gefahr. Nicht weit war es zu Visionen des Luftkrieges, der herausragenden Persönlichkeit des Kriegspiloten und der Darstellung des Feindes als abstrakte Masse "dort unten". Die Problematik von Marinettis Nähe zu Mussolini und seiner immanenten Kriegsverherrlichung betraf auch und vor allem einen Schriftsteller, der schließlich selbst Flieger werden sollte: Gabriele d'Annunzio, jenen radikalen, ja fanatischen Dichter, der 1917 über Wien Flugzettel gegen die Monarchie abwarf. Der Schriftsteller, der bekannt war für seine tollkühnen Unternehmungen und am Gardasee über seine Verhältnisse residierte wie ein Fürst, durfte 1909 zum ersten Mal mitfliegen, bei einer Flugschau, die im September 1909 in Brescia stattfand. Das brachte ihn nicht nur dazu, später selbst Flieger zu werden, sondern auch 1910 mit "Vielleicht, vielleicht auch nicht" einen Roman zu veröffentlichen, in dem sich vieles wiederfindet von den Erfahrungen dieser Tage, allerdings stilisiert, mythologisiert und nationalisiert.

Der Ideologe d'Annunzio

"Da mit einem Male erwachte in den Stämmen Italiens die Erinnerung an jenes erste Flügelpaar, das ins griechische Meer gestürzt, an die ikarischen Flügel, aus Haselruten gefertigt, mit Rindersehnen verbunden, mit Geierfedern beschwingt. (...) Und mit einem Male gedachten sie (...) des neuen Dädalus, des Bildners von Kunstwerken und Maschinen, des neuen Prometheus ohne Fesselung. Und wie sieghaftes Wetterleuchten erschienen auf den Ebenen, Hügeln und Seen Italiens neue Menschenflügel, vom Blut des Wagnisses gerötet, zerschmettert wie die Glieder der Kühnen, zerfetzt wie ihre Leiber, reglos wie der Tod, unsterblich wie in der Seele der Menschen die Gier zu fliegen."

Vielleicht als erster Autor überhaupt hält d'Annunzio die Realisierung des Ikarus-Mythos durch die motorisierte Fliegerei literarisch fest. D'Annunzios Roman ist dabei eine Art Programmschrift, die den todesmutigen Ikarus heroisiert und einen scharfen Kontrast der übermenschlichen und einsamen Leistung des Rekordfliegers zur applaudierenden Masse "dort unten" malt. Geprägt ist sein Fliegerheld ganz offensichtlich vom nietzscheanischen Luft-Schifffahrer des Geistes: das in Brescia für d'Annunzio reale Erlebnis scheint von Friedrich Nietzsche in der 1881 erschienenen "Morgenröte" visionär vorweggenommen:

"Alle unsere großen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmutigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt: auch mir und dir wird es so ergehen! Was geht das aber mich und dich an! Andre Vögel werden weiter fliegen! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fliegt mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Scharen viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohn wir streben, und wo alles noch Meer, Meer, Meer ist."

Der Beobachter Kafka

Augenzeuge jener Flugschau, die im September 1909 in Brescia stattfand, war aber auch einer, der später einer der größten Schriftsteller seines Jahrhunderts werden und über die Ereignisse in Brescia seinen ersten journalistischen Beitrag verfassen sollte: Franz Kafka. In seinen Aufzeichnungen über die Aeroplane in Brescia, so der Titel seines am 29.9.1909 in der deutschen Prager Zeitung "Bohemia" erschienenen Artikels, erweist er sich als fulminanter Beobachter. Kafkas Reportage ist im Unterschied zu d'Annunzios Roman trotz aller Bewunderung geerdet, frei von einer Helden-Stilisierung oder gar Mythologisierung. Kafka, der sich hier zum ersten Mal im journalistischen Stil versucht, achtet auf Gesten, Physiognomie, Kleinigkeiten, auf eine Schraube ebenso wie auf das besorgte Gesicht von Blériots Frau: "Die Zuschauer können einmal aufatmen und sich umsehn. Die junge Frau Blériot mit mütterlichem Gesicht kommt vorüber, zwei Kinder hinter ihr. Wenn ihr Mann nicht fliegen kann, ist es ihr nicht recht, und wenn er fliegt, hat sie Angst; überdies ist ihr schönes Kleid ein bißchen schwer für diese Temperatur." Aber natürlich fragt sich Kafka auch, was hier in diesem Augenblick geschieht, und auch in diesen Beobachtungen erweist er sich als zwar fasziniert, aber durchaus nüchtern: "Blériot ist in der Luft, man sieht seinen geraden Oberkörper über den Flügeln, seine Beine stecken tief als Teil der Maschinerie. Die Sonne hat sich geneigt, und unter dem Baldachin der Tribünen durch beleuchtet sie die schwebenden Flügel. Hingegeben sehn alle zu ihm auf, in keinem Herzen ist für einen andren Platz. Er fliegt eine kleine Runde und zeigt sich dann fast senkrecht über uns. Und alles sieht mit gerecktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Blériot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist zwanzig Meter über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehen unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu." Mit d'Annunzios Romanhelden hat Kafkas Beschreibung des Piloten gar nichts gemeinsam.

Vielleicht macht gerade das die Flugschau von Brescia so bedeutend: nicht die Distanzen, die geflogen oder die Preise, die vergeben wurden, sondern die beiden anwesenden Dichter Franz Kafka und Gabriele d'Annunzio, deren Leben und Schreiben nicht unterschiedlicher sein könnten und die von der Feststellung der Ohnmacht bis zum Traum von der Allmacht die ganze Bandbreite dessen repräsentieren, wie die technischen Errungenschaften (auch literarisch) verstanden werden konnten und heute noch können.

Panoptikum des Publikums

Über die Auswirkungen der Flugtechnik auf die Literatur - und dabei auch über die Flugschau in Brescia - verfasste bereits 1978 Felix Philipp Ingold unter dem Titel "Literatur und Aviatik" eine hervorragende Studie. Peter Demetz, 1922 in Prag geboren, Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft in Yale, legte nun ein Buch vor, in dem er - ausgehend von jenen Ereignissen in Brescia und fasziniert von diesem Panoptikum an anwesenden, fliegenden, staunenden, schauenden und schreibenden Publikum - eine Art Seitenblicke auf diese illustren Zuschauer richtet. Neben vielen technischen Details berichtet er auch so manchen Tratsch rund um dieses Event. So erfährt man beispielsweise, warum Franz Kafka überhaupt anwesend und mit wem er gekommen war: nämlich mit den Brüdern Max und Otto Brod, mit denen er gemeinsam in Riva auf Urlaub weilte. Man liest ferner, dass der ebenfalls anwesende Giacomo Puccini ein Techniknarr war und dass er und d'Annunzio sich in Brescia aus dem Weg gingen, und man erfährt den Namen der ersten und einzigen Frau, die in Deutschlands Monarchie ihr Fliegerdiplom machte. Anhand von Texten, wie sie Franz Kafka, Gabriele d'Annunzio oder der auf Farben und Kleider fixierte Max Brod hinterlassen haben, malt Peter Demetz das Bild dieser Tage und holt dabei weit aus: in die Biografien der anwesenden Schriftsteller ebenso wie die der Flieger. Die Faszination jener Tage in Brescia bleibt damit bis heute lebendig.

BUCHTIPP:

Die Flugschau von Brescia

Kafka, d'Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen

Von Peter Demetz, aus dem Englischen von Andrea Marenzeller

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2002

252 Seiten, geb., e 20,50

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung