Es war kalt in diesem Winter des Jahres 1945. Der Ofen fror, und die Tuchent war für zwei Personen zu klein. Man lag mit Wehrmachtsunterhemd, Wollsocken und langer Unterhose im Bett. Frau war angezogen wie eine Vogelscheuche. Der Bub lag zwischen uns und schaute auf das Tannenkrüpperl, das sich Christbaum nannte und schmucklos dastand. Nicht ganz schmucklos, um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich hatte aus meinen Unteroffiziersdistinktionen das "Lametta" herausgezogen und an die Zweige gehängt - da waren sie besser am Platz. Auch gezählte fünf Kekssterne prangten unter den Nadeln. Das Licht kam von der Straße. Stempfergasse, Graz. 24. Dezember! Heiliger Abend!
Wir hatten an diesem Abend keinen Hunger, aber viel Hoffnung. Der Krieg war aus, die Gefangenschaft vorbei und die Angst verflogen. Weihnachten war's, Fest des Friedens, der Liebe und der Freude. Nicht nur Er war uns geboren, auch unser Land, unser Österreich war wiedergeboren. Vergessen die Schmach, der Schmerz, die Schuld. Freue Dich! Nie wieder Krieg! Diesmal lernen wir aus der Geschichte! Nie mehr Hass und Hetze! Nie mehr.
Wir haben geweint, geweint vor Glück und Dankbarkeit. Heute? Mein Gott! Wir haben zu essen, Grund zum Feiern und Ursach' nachzudenken. Und wir essen, trotz der Milliarden Hungernden auf unserem Planeten, wir feiern, weil es eben schön ist, zu feiern und gerührt zu sein. Aber wir - nein, wirklich - wir denken nicht nach.
Machtlos sehen wir die Schuldigen triumphieren, hören die Hetzer hetzen, die Leugner leugnen und die Lügner lügen. Islam, Bin Laden, George Dabbelju, und wie sie alle heißen, die Großen und daneben die Kleinen, die anmaßenden Politkasperln der 4. Garnitur - Sie sind gefährlich, aber am gefährlichsten sind wir selber, denn Menschen, die die Augen schließen, weil sie nicht sehen wollen, taumeln in den Abgrund.
Aber vielleicht geschieht ein Weihnachtswunder. Ich glaub's zwar nicht, aber ich hoffe es. Hoffe noch immer. Von der Pfarrkirche in Großenzersdorf wird das Geläute klingen, ich werde wieder liegen, hören und träumen, will an die denken, die ich liebe, brauche und für die ich bete. Und ich werde versuchen, diesmal in der Heiligen Nacht nicht zu weinen.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!