"Ich will nicht urteilen"

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Erinnerung an unsere Arbeit mit George Tabori.

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Erinnerung an unsere Arbeit mit George Tabori.

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Macht kein Theater!" war einer seiner häufigsten Sätze. Für George Tabori war der Schauspieler wichtiger als seine Rolle, das Produzieren produktiver als das Produkt, die private Geschichte einer Produktion beredter als die Literatur. Daraus folgt, sagte er, dass es unsere Aufgabe im Theater sein sollte, die Schauspieler in Menschen zu verwandeln. Und nicht die Menschen in Schauspieler.

Noch ein Satz, den ich nicht vergesse: "Keiner hat das Recht, den Juden das Recht zu nehmen, so widersprüchlich wie jeder andere Mensch zu sein." Die Proben für das Stück Masada (nach dem Bericht Der jüdische Krieg von Flavius Josephus) begannen in Wien 1988 mit zwei sich gegenüberstehenden Gerichtsschranken. Die Zuschauer waren die Geschworenen und urteilten über den Juden Flavius Josephus hinter der einen Schranke und über die Jüdin aus Masada hinter der anderen Schranke: Warum hast du überlebt? Einige Wochen später waren die Gerichtsschranken weggeräumt. Warum? "Ich will nicht urteilen!", war George Taboris Antwort. "Wir müssen einander als Menschen und nicht als Abstraktionen betrachten, sonst kann man genauso gut die Öfen wieder anzünden."

Warum hast du überlebt?

Dann hat sich Tabori ein kleines Modell bauen lassen von der jüdischen Festung Masada und von dem römischen Belagerungsturm, auch der Brand von Masada wurde mit Hilfe von Kaminanzündern nachgestellt, dazu kam eine Landkarte und ein Zeigestock: "Spielt die ganze Schlacht um Masada, als würdet ihr einen Vortrag in der Universität halten." Nach und nach wurde dann aus dem Vortrag erinnerndes Agieren und Nacherleben und schließlich ein gegenwärtiges Erleben im Spiel. Eines Morgens hatte Tabori ein riesiges Bodentuch auf der Probebühne auslegen und darunter kleine Plastikbecher verteilen lassen, in der Ecke stand ein Schubkarren voller Erde: daraus wurde im Laufe der Proben eine Erinnerungsszene, in der die Überlebenden von Masada ihre Toten auf einem riesigen Knochenfeld beerdigten.

Von Freud stammt der Begriff der Erinnerungsarbeit, bestehend aus den drei Schritten Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Da sind wir mittendrin in der Theaterarbeit Taboris. Er hat nur sehr ungern Spielvorschläge gemacht und schon gar nicht Anweisungen gegeben, sondern konkrete Spielrequisiten hingestellt und hat sich dann in die Abhängigkeit der Spieler begeben. Geduldig wartend von einem guten zum nächsten guten oder schlechten Probentag. Geduldig wartend auf den Einfall oder die Spiellaune der Schauspieler. Übungen hat er nur gemacht, damit die Spieler die Scheu voreinander verlieren, sich wirklich anschauen und wirklich aufeinander reagieren. Sie sollten kein vorgefertigtes Bild erfüllen oder etwas mechanisch tun und dabei nicht spüren, mit wem sie es auf der Bühne zu tun haben.

Theater, nicht Reproduktion

Nie hat er verleugnet, dass das, was im Theater vorgeht, ein höchst lebendiger Vorgang ist und kein reproduzierter, ein Vorgang, in den eigentlich jeder eingreifen kann, verändernd, sogar der Zuschauer. Das Theater müsse so angreifbar bleiben, dass es diese Einmischungen oder gar Störungen von außen erträgt und umsetzt und nicht deswegen zerfällt. "Lieber sich preisgeben als sich absichern."

Theaterkunst im perfektionistischen Sinne hat ihn nie interessiert, darum konnte sein Theater und wollte sein Theater auch nie fertig sein. Seine wichtigste Regieanweisung (und Lebensanweisung!) war: "Morgen erfindet ihr was Neues!" Aber nie hat er gesagt, was man neu machen soll. Er sagte: "Benützt alles, was ihr im Anderen und auf der Szene neu entdeckt. Das Theater ist nicht der Ort, an dem die Spieler sich vollenden, sie sollen suchen und jeden Tag etwas Neues beginnen und das Gefundene wieder in Frage stellen."

"Die einen haben den Mut, ihren kleinen Nazi rauszulassen, die anderen nicht. Ein Fremder versucht, beide zu verstehen, indem er sich nicht weigert, etwas von beiden in sich zu finden." So hätte sich auch Tabori selbst beschreiben können. Und noch ein Satz von Tabori: "Böll und Kleist und Faust kann ich doch nicht mit Himmler in einen Topf werfen, nur weil sie alle Heinrich heißen."

Stücke ohne Botschaft

Seine Stücke haben keine "message"; wenn man fragt, was will er denn mit dem Stück, oder wenn man meint, man hätte den Zipfel einer "message" erwischt, schon kommt eine der Figuren und macht einen Witz darüber, und man schämt sich, dass man diese Botschaft, die man gerade eben entdeckt zu haben glaubte, nicht selber in Frage gestellt hat.

Obwohl er in seinem Leben viele Katastrophen erlebt hat und lieber über diese gesprochen hat als über seine Erfolge, haben wir nie Zynismus bei ihm entdeckt oder Verbitterung. Auf eine seltsame Weise war er immer heiterer als alle anderen, weil er immer so schön loslassen konnte. Bei ihm ging es nie um alles oder nichts, es ging ums Leben und ums Überleben.

Alle lieben George Tabori, wahrscheinlich gehören wir beide zu den Verliebtesten, aber nicht weil er einer der größten Regisseure ist, sondern weil sein Theater die Niederlagen und Fehler der Menschen mehr liebt als ihre Siege.

Er war für uns auch immer wie ein riesiges Geschichtenbuch. Manchmal hätten wir lieber anstatt zu probieren mit ihm in einem Café gesessen und ihn erzählen lassen wie aus Tausend und einer Nacht. Übers Theater und übers Leben. Für uns ist er unsterblich.

Gert Voss war Schauspieler in Taboris Inszenierungen "Othello", "Goldberg Variationen", "Requiem für einen Spion", "Ballade vom Wiener Schnitzel", "Fin de Partie (Endspiel)", Ursula Voss Dramaturgin aller Produktionen von Tabori seit 1986 im, Kreis' und am Burgtheater.

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