Nora Bossong - © Foto: picturedesk.com / dpa Picture Alliance  / Volker Essler

„Bleiben wir in der Welt“: Katja Gasser über Nora Bossong

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Sie thematisiert das Verhältnis zwischen Politischem und Privatem, Emotion und Vernunft: Nora Bossong erhielt den renommierten Joseph-Breitbach-Preis. Wir bringen die Laudatio.

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Sie thematisiert das Verhältnis zwischen Politischem und Privatem, Emotion und Vernunft: Nora Bossong erhielt den renommierten Joseph-Breitbach-Preis. Wir bringen die Laudatio.

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„Bleiben wir in der Welt“: Dieser Satz findet sich in Nora Bossongs Roman „36,9°“, in dessen Zentrum Antonio Gramsci steht. Und mit ihm die Frage nach dem komplexen Verhältnis zwischen Politischem und Privatem, zwischen Emotion und Vernunft – und danach, was, im Zweifelsfall, schwerer wiegt – womit eines der zentralen Themen der Literatur Nora Bossongs angedeutet wäre.

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Diese Literatur mit all ihrer unaufdringlichen formalen Klarheit, ihrer feinen Lakonie, beiläufigen Genauigkeit und Beobachtungsschärfe: Sie nimmt es auf mit der „Alten Tante Politik“ – so ein Gedichttitel aus Nora Bossongs Lyrikband „Kreuzzug mit Hund“. Diese Literatur: Sie lockt die „alte Tante Politik“ unter anderem dort aus der Reserve, wo diese ihren „Aufstand nach Vorschrift“ vollzieht und sich in die feudalen Nebenräume unserer zerklüfteten Gegenwart zurückzieht – was, ganz klar, einer Selbstauslöschung der „guten alten Tante“ gleichkommt. Dieser „guten alten Tante“ kontert die Literatur Nora Bossongs, indem sie sie mit einem Maß konfrontiert, das die Dauer im Blick hat, nicht allein den Augenblick.

Dauer und Augenblick

Die Dauer im Verhältnis zum Augenblick: Als „liebe alte Tante“ bezeichnet der polnische Lyriker und Essayist Adam Zagajewski die Dauer. Im Gegensatz zum Augenblick habe die Dauer Humor, schreibt Zagajewski, und Erfahrung. Nora Bossongs Literatur ist ohne das intensive Studium der Dauer im Verhältnis zum Augenblick, also ohne die Auseinandersetzung mit der Frage, welcher Art die Beziehung unserer Gegenwart zur Vergangenheit ist, nicht denkbar. Dieses Studium: Es schafft Raum, im Denken wie im Empfinden, es schärft das Verantwortungsempfinden, es ermög licht Sprache. Nicht zufällig zitiert Nora Bossong in ihrem Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“ folgenden Satz von Hans Jürgen von der Wense: „Lest nicht die Times, lest die Ewigkeiten!“

Der Satz „Bleiben wir in der Welt“: Er ist Ausdruck einer entschiedenen, zugleich zurückhaltenden Absichtserklärung, die mir in vielerlei Hinsicht programmatisch scheint für das Werk Nora Bossongs – sowohl ihre Lyrik als auch ihre Prosa betreffend. Nämlich sich schreibend nicht in ein Arkadien zurückzuziehen, vielmehr: sich damit, was wir Welt nennen, mit all ihrem Schmerz und ihrem Trost, all ihrem Glück und Unglück beschäftigen zu wollen. Und das im Wissen, dass dafür Poesie allein nicht reicht, Politik allein erst recht nicht. Und dass es die Kunst zerstört, wenn man ihre Absicht fühlt.

„Bleiben wir in der Welt.“ Das bedeutet im Falle von Nora Bossong nicht zuletzt Ambivalenzen offenzulegen – im Intimen wie im Öffentlichen, mithin das sichtbar zu machen, was jedem ideologischen Entwurf zuwiderläuft: den Widerspruch, die Dissonanz, die kom
plizierte Mehrdeutigkeit, die Uneindeutigkeit des Lebens. In Nora Bossongs „Schutzzone“ ist zu lesen: „[…] manchmal, nur manchmal, überkommt mich die Angst, das falsche Leben zu leben, als würde es das richtige irgendwo geben, aber man berührt immer nur den Ersatz, die Fälschung, das Beinah, […].“

Diese Literatur mit all ihrer unaufdringlichen formalen Klarheit, feinen Lakonie, beiläufigen Genauigkeit und Beobachtungsschärfe ...

Katja Gasser

Fest steht: „Der Zeit davonlaufen“, wie es sich die Hauptfigur im Roman „Webers Protokoll“ wünscht, ist für Nora Bossongs Literatur keine Option, wiewohl es ihre Figuren immer wieder für sich in Erwägung ziehen. Der Zeit, in der man lebt, in die Falle zu gehen: Dagegen ist dieses Werk ebenso gewappnet.

Noch einmal Adam Zagajewski: „Das größte Unglück ist, eine gerade […] herrschende Ideologie zu akzeptieren. Aber wir können einer zumindest teilweisen Kontaminierung nicht entgehen, die Epoche vergiftet uns immer. Sie vergiftet und rettet uns, denn wir können nicht außerhalb der Zeit leben.“ Von dieser Einsicht sind Nora Bossongs Texte durchdrungen. Auch der Roman „ Webers Protokoll“, in dem sich alles um einen deutschen Diplomaten in der NS-Zeit dreht, dessen Karrierismus, dessen penetranter Hang zur Selbstprivilegierung ihn blind macht für Menschenschicksale. Gefährlich, das weiß Nora Bossongs Literatur, sind nicht die, die der vorherrschenden Ideologie, der vorherrschenden Sprache widersprechen, nicht jene, die gegen die konventionelle Ordnung der Dinge aufbegehren; gefährlich sind jene, denen dazu der Mut oder der Wille oder die Fähigkeit fehlt: Insofern ist Nora Bossongs Literatur zutiefst ungefährlich.

In diesem Sinne ist auch die Protagonistin ihres Romans „Schutzzone“ eine harmlose Person: eine engagierte Zweifelnde, eine, die stolpert, die unsicher ist, eine Suchende, die durch ihre Begabung, Menschen zum Erzählen zu bringen, auch Widersprüche zutage fördert, die sie dann ertragen muss. Und gerade weil sie im Stande ist, diese auszuhalten, hat sie das Potenzial zur Friedensstifterin. Dieses Potenzial: Es ist zugleich gebunden an die Überzeugung, dass wir „mit einer Wahrheit“ nicht weiterkommen, „aber vergiss nicht, zu viele Wahrheiten machen es irgendwann lächerlich, das weißt du, klar“, wie es eine der Figuren im Roman „Schutzzone“ einmal formuliert.

Das Wesen der Welt

Voraussetzung für all das ist die Annahme, dass das, was wir Wirklichkeit nennen, von unhintergehbarer, ungeheurer Fragilität ist; die Erkenntnis, dass die Welt niemals aufhört, eine „gebrechliche Einrichtung“ zu sein – auch nicht in Friedenszeiten. Das Gedicht „Stationiert“ von Nora Bossong endet mit den Zeilen: „weißt du sagt er die Welt ist ja nicht immer so groß wie wir / denken nur eine Handbreit zwischen Panik und Verschwinden“. Ein Aphorismus von Franz Kafka lautet: „Im Kampf zwischen dir und der Welt sekundiere der Welt.“ Ob Nora Bossong dem zustimmte? In Kenntnis ihres Werks ist davon auszugehen.

„Erst wenn es uns gelingt, das Wesen der Welt wenigstens teilweise zu erkennen – […] – wenn wir wenigstens ein klein wenig eingeweiht sind in die Geheimnisse der Welt, können wir beginnen zu handeln“, schreibt Adam Zagajewski zum zitierten Aphorismus Franz
Kafkas. Und Nora Bossong ist eine, die literarisch durchaus zupackt – stets im Bewusstsein, dass man auf der Hut sein muss vor den eigenen blinden Flecken, den überall lauernden Simplifizierungsversuchungen, letztlich auf der Hut vor dem eigenen Zupacken-­Wollen.

Mit Ihnen, liebe Nora Bossong, ist es leichter, in der Welt zu bleiben. Und das eigene ‚unvollständige Leben‘ auszuhalten.

Katja Gasser

Ich habe von der Kraft des Erzählens gesprochen in Zusammenhang mit Nora Bossongs Roman „Schutzzone“, für den die Autorin, wie häufig in ihrem Fall, viel gereist ist, viel recherchiert hat. Dieses Buch, das zwar kompromisslos kritisch mit der UNO ins Gericht geht, zugleich von der tiefen Überzeugung getragen ist, dass wir diese Institution dringend brauchen – trotz wiederholten schrecklichen Versagens – und dass der abnehmende Respekt vor dieser Art Institution nicht von einem Erstarken der Demokratie und einer wachsenden kritischen Zivilgesellschaft zeugt, sondern vom Gegenteil.

Der Roman lässt sich lesen als ein Text, der die heilsame Kraft des Erzählens beschwört und die Schutzlosigkeit als das alle Menschen Verbindende in den Fokus rückt. Der Roman verdeutlicht: Will man dem Humanismus dienen, will man an eine Gesellschaft glauben, in der die Menschen das Schicksal des anderen teilen, statt es abzulehnen, zählt es zum Elementarsten, einen Dialog herbeizuführen, im Dialog zu bleiben.

Und das trotz aller Widrigkeiten und der offensichtlichen Vergeblichkeit, gegen die sich wiederholenden Gewaltausbrüche und mit der Erfahrung in den Knochen, dass „der Mensch vor allen anderen Lebewesen zu Grausamkeit begabt ist“. Und das heißt: mit dem Erzählen nicht aufzuhören, im Erzählen zu bleiben – gegen den Tod, gegen das Vergessen, gegen das Verschweigen, gegen den Hass, gegen die Versteinerung unserer Herzen. „Du weißt nicht“, sagt eine der Figuren in „Schutzzone“, „zu was Menschen fähig sind, wenn sie gerade nicht weinen.“

Es ist das Nicht-Gesagte, das nicht in Sprache zu Bringende, das die Menschen und damit die Kunst zusammenhält, ein Schweigen, das sich aus dem Schrecken wie der Schönheit nährt.

Katja Gasser

Es ist kein Zufall, dass in „Schutzzone“ mehrmals auf die Figur der Scheherazade verwiesen wird. So ist gegen Ende des Textes zu lesen: „[…] und auch wenn es vielleicht keine Wahrheit gibt […], gibt es doch immerhin Abstimmungen, Resolutionen, die Entscheidung, mit der Sache befasst zu bleiben, und es gibt den Wunsch zu erzählen, weil wir jemanden halten wollen, obwohl es Unsinn ist, jemanden zu halten, der längst gegangen ist oder nie wirklich da war, aber solange wir sprechen, wird er uns noch eine Weile zuhören, wird er bleiben, uns nicht töten am Morgen, […].“ An anderer Stelle heißt es im Roman: „[…] am Ende bleiben ein paar Geheimnisse, das ist es doch, nicht die Grenzen, die Geheimnisse halten zusammen, deshalb muss man sie schonen, sie gehen so leicht kaputt […].“

Und das heißt auch: Es ist das Nicht-Gesagte, das nicht in Sprache zu Bringende, das die Menschen und damit die Kunst zusammenhält, ein Schweigen also, das sich aus dem Schrecken wie der Schönheit nährt, ein Schweigen, um mit Ilse Aichinger zu sprechen, „das im Stande sein sollte, jedes Wort zu decken“. Versöhnung, das zeigt Nora Bossong mit dem Roman „Schutzzone“, lässt sich ebenso wenig verordnen wie Nähe. Sehr wohl aber ist es möglich, an dem Bild einer Welt festzuhalten, „in der man menschlich sein kann“, wie es im Roman „36,9°“ einmal heißt. Und das, obwohl die Realitäten mehr als ernüchternd sind: „Es gab das Plus jamais ça, Never again, Nie wieder, aus dem heraus die UNO gegründet worden war, aber es verhinderte nicht, dass es wieder geschah, die Morde, Massaker, Genozide.“ Ist in „Schutzzone“ zu lesen.

Stets das Konkrete im Blick

Nora Bossong schreibt sich „alles aufs Herz und nichts vom Herzen“, wie es Ilse Aichinger in einem Text über Georg Trakl formuliert. Dabei hat Nora Bossong stets das Konkrete im Auge. „Es gibt nichts anderes, nur konkrete Menschen und konkrete Dinge“, schreibt Adam Zagajewski in „Die kleine Ewigkeit der Kunst“, „Pappeln und Buchen, Holundersträucher und den Geist, der sie beachtet, und die Trauer darüber, dass alles zu Ende geht.“ Nora Bossong schreibt: „[…] eine Geschichte, wir erzählen sie, damit die Vermissten dort noch ein wenig bei uns sind.“ Das Erzählen von Konkretem stiftet demnach Nähe, rettet vor dem Geschichtsverlust und webt, auf diese Weise, mit an jenem immer wieder aufs Neue ersehnten „Bogen des moralischen Universums“, von dem Martin Luther King überzeugt war, er, dieser „Bogen des moralischen Universums“, sei weit, aber er neige sich zur Gerechtigkeit. Und auch wenn es heißt „Das letzte bisschen Frieden geht auf Raten aus“, lässt Nora Bossongs Literatur diesen „Bogen des moralischen Universums“ als Möglichkeit nicht aus den Augen.

„Bleiben wir in der Welt“: Mit Ihnen, liebe Nora Bossong, ist es leichter, in der Welt zu bleiben. Und das eigene „unvollständige Leben“ auszuhalten, „das besser einzurichten mir nicht geglückt war“, wie es Mira in „Schutz zone“, stellvertretend für viele, einmal sagt. Ich möchte Ihnen für Ihre Ernsthaftigkeit und Präzision danken, mit der Sie das Menschsein sezieren und zugleich Zeitgenossenschaft ablegen. Und für Ihren Witz. Und Ihre Melancholie. Für Ihren Kampfgeist und dafür, dass Sie am Träumen festhalten. Dafür, dass Sie sich vom immer grassierenden Fieber der Ideologie nicht auf den Platz der Resignation verweisen lassen. Für Ihre literarische Suche nach dem Großzügigen und Nicht-Gleichgültigen. Dafür, dass Sie sich nicht satt im Nebel der Ironie einrichten. Den Schrecken als Schrecken zeigen, ohne die Schönheit zu leugnen. Und umgekehrt.

„Der Irrtum des Intellektuellen besteht im Glauben, man könne wissen, ohne zu glauben, und vor allem, ohne zu fühlen und leidenschaftlich zu sein.“ Ein Satz von Antonio Gramsci, den einer der Protagonisten in Nora Bossongs Roman „36,9°“ gegen Ende hin zitiert. Dieser Irrtum: Er ist einer der produktivsten Motoren von Nora Bossongs Werk. Liebe Nora Bossong: Ich freue mich sehr mit Ihnen über die Zuerkennung des Joseph-BreitbachPreises und gratuliere Ihnen aus ganzem Herzen!

Die Autorin leitet das Literaturressort im ORF-Fernsehen.

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