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Warnung vor Leonore 3

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Mehrere Neuinszenierungen von Beethovens einziger Oper, des „Fidelio“, stehen bevor, von der ihr Autor einmal sagte: „Diese Oper erwirbt mir noch die Märtyrerkrone“. So lang und so schwer hat er mit dem Stoff und mit der Form gerungen. Der Leidensweg begann mit der erfolglosen Uraufführung am 20. März 1805 in Wien. Beethoven erklärte damals, „die ganze Sache mit der Oper“ sei die mühsamste von der Welt, „denn ich bin mit dem meisten unzufrieden“. Einige Stücke wurden durch neue ersetzt, die erste Ouvertüre verworfen, und die Arie der Marzelline genügte ihm erst in der dritten Fassung. All das geschah unmittelbar vor und während der Proben.

Im Frühjahr des folgenden Jahres gab es eine zweite Premiere: eine Neufassung des Textbuches von Bouilly und Sonnleitner durch Beethovens Freund Stephan von Breuning, ferner Kürzungen und Umstellungen einzelner Nummern, und es entstand eine neue, große Ouvertüre, die sogenannte 3. Leonoren-Ouvertüre, um die es uns heute geht. Erfolg hatte erst die dritte Fassung der Oper von 1814, die Beethoven, auf ein neues Textbuch von Treitschke gestützt, nach ausschließlich künstlerischen Gesichtspunkten vornahm, und es gehört zu den Kuriositäten der Musikgeschichte, daß dieses große und großartige Werk, das seinen Schöpfer soviel Mühe gekostet hatte und ihm die Kunstform der Oper ein für allemal verleidete, hauptsächlich dank einer jugendlichen Interpretin, der damals 17jährigen Wilhelmine Schröder-Devrient, welche die Titelpartie zum ersten Male im Jahr 1822 sang, beim Publikum Erfolg hatte — und erfolgreich blieb. Doch zurück zur Ouvertüre „Leonore 3“, die man heute im 2. Akt nach dem Duett „O namenlose Freude“ als „Einlage“ zu spielen pflegt.

Wie ist es überhaupt zu dieser Unsitte gekommen? Die Dirigenten, die auf dieses Paradestück nicht verzichten wollen — und es waren und sind leider viele! —, meinen, sich auf Gustav Mahler berufen zu dürfen. Aber Mahler hat Bruno Walter gegenüber ausdrücklich erklärt, daß er „Leonore 3“ nur als Notlösung eingefügt habe, weil die Verwandlung vom unterirdischen Kerker zum Finale unter freiem Himmel nicht rasch genug zu bewerkstelligen gewesen ist. Heute hingegen, wo es solche Schwierigkeiten nicht mehr gibt — oder nicht mehr geben sollte (mit dreh- und versenkbarer Bühne, praktikablen Kulissen usw.), besteht keinerlei Notwendigkeit, ja es ist geradezu unkünstlerisch, die sich mit Fallgeschwindigkeit dem Ende nähernde Handlung durch ein Orchesterintermezzo von 14 Minuten Dauer zu unterbrechen. Diese Ouvertüre ist, wie man weiß, eine Art Resümee der ganzen Fidelio-Handlung. Sie ist daher sowohl am Anfang wie auch am Schluß der Oper quasi als Epilog (wo sie ebenfalls schon gespielt wurde) in gleicher Weise deplaciert.

Soll man also auf diese großartige Musik, die erste symphonische Dichtung, die wir kennen, verzichten? Keineswegs. Ihr Platz ist im Konzertsaal. Dort mögen recht viele, recht gute Dirigenten (wenn es das gibt) sie aufführen. Der Erfolg wird ihnen sicher sein. Aber in der Oper wirkt sie nur störend, retardierend, mit einem Wort: völlig unsinnig.

Alle diese Argumente hat bereits vor 15 Jahren an dieser Stelle der in der Schweiz lebende Beethoven-Spezialist Willy Hess ausführlich dargelegt, und der an der Wiener Akademie lehrende Musikologe, Beethoven- und Mahler-Forscher, Prof. Erwin Ratz, hat Herrn Willy Hess in einem ausführlichen Leserbrief, der ebenfalls in der „Furche“ abgedruckt wurde, beigestimmt. Wir brachten damals beide Veröffentlichungen rechtzeitig vor der „Fidelio“-Neuinszenierung anläßlich der Wiedereröffnung des Großen Hauses am Ring im November 1955. Leider ohne Erfolg. Der damalige Dirigent des „Fidelio“ glaubte auf das wirkungsvolle Paradestück nicht verzichten zu können. Nun wollen wir sehen, ob Leonard Bernstein, der während der Wiener Festwochen „Fidelio“ erst im Theater an der Wien und später in der Staatsoper dirigieren wird, und ob Dr. Karl Böhm, der die Oper im Rahmen der Salzburger Festspiele leiten soll, Beethovens „letzten Willen“ respektieren werden.

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