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Abenteuer einer Handschrift

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Vor ungefähr acht Jahren überraschte mich einmal Universitätsprofessor Hofrat Richard Meister gesprächsweise mit der Bemerkung, er habe als Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Edition der Regula S. Benedicti nach dem neuesten Stand der Textkritik angeordnet. Miri der Durchführung sei ein hervorragender Fachmann in der Wiener Latinistik, besonders des späten und christlichen Latein, Universitätsprofessor Rudolf Hanslik, betraut worden. Nun liegt die Arbeit mit vielfach grundlegend neuen Forschungsergebnissen vor, und zwar als 75. Band in dem seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Wien herausgegebenen Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum.

Zu den wenigen Werken aus der ausgehenden Antike, die durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag ihre volle Gültigkeit behalten haben, gehört die Ordensregel des heiligen Benedikt von Nursia, des Gründers der Abtei Monte Cassino (im Jahre 529) und damit des Benediktinerordens. Diese aus einer Einleitung und 73 Kapiteln bestehende Regel ist in zahllosen Handschriften, und, seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, auch in zahlreichen gedruckten Ausgaben in den Klöstern verwendet worden. Erfahrungsgemäß erleidet jedoch jeder Text, der oft abgeschrieben wird, im Laufe der Zeit Veränderungen, die teils durch Irrtümer der

Schreiber, teils durch beabsichtigte

Änderungen entstehen. Zur Zeit Karls des Großen wurde man sich in Frankreich bewußt, daß Handschriften dieser Regel existierten, die voneinander abwichen, desgleichen im 15. Jahrhundert in Österreich durch die Melker Reformbestrebungen. Doch immer wieder entwickelte sich ein Mischtext, der dann abgeschrieben oder abgedruckt wurde: welches der originale Text Benedikfs sei, auf welche Weise die vielen Textab- weiihung’en in den Handschriften und den gedruckten Exemplaren entstanden seien, darnach fragte man nicht. Der erste, der versuchte, diesen Text auf wissenschaftlicher Grundlage zu erstellen, war ein Benediktiner aus Metten, P. Edmund Schmidt, dessen Ausgabe 18 80 erschien. Er hatte die ältesten Handschriften gesammelt und in Klassen geschieden; doch konnte er nicht sehen, daß es eine weniger verläßliche Gruppe von Handschriften war, nach denen er seinen Text ausrichtete. Fünf Jahre nachher gab der große Münchner Philologe Eduard Wölfflin, der Begründer des Thesaurus linguae Latinae — ein Werk, das heute erst bis zur Hälfte gediehen ist —, die Regula heraus; er stützte sich auf die älteste erhaltene Handschrift, einen Oxforder Kodex aus dem 7. 8. Jahrhundert, und ahnte nicht, daß dieser sich am weitesten vom originalen Text Benedikts entfernt hatte. Die weitaus beste aller Handschriften wurde von beiden Herausgebern nicht erkannt; sie ist in dem Verzeichnis von Sankt Gallen mit Nr. 916 angegeben, jedoch als eine Handschrift aus dem 13. Jahrhundert; man beachtete sie nicht, da man ja Handschriften aus dem 7. bis 9. Jahrhundert zur Verfügung hatte.

Erstgeburt des Jüngeren

Doch als jener Kodex dem berühmten Münchner Paläographen Ludwig Traube in die Hände kam, erkannte er, daß dieser Text aus dem 9. Jahr-

hundert stammt und der Ausgangspunkt für jede Edition sein müßte. Im Jahre 1898 erschien in den Abhandlungen der Königlich Bayerischen Akademie Traubes epochemachende Arbeit: Textgeschichte der Regula

Benedicti; er zeigte, daß die bisherigen Ausgaben auf unrichtiger Grundlage aufgebaut gewesen seien. Seinem besten Schüler, dem Benediktiner Heribert Plenkers, übertrug Traube die Aufgabe, in dem größten Unternehmen zur Herausgabe patristischer Texte, dem Kirchenvätercorpus der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die Edition der Regula zu besorgen. Plenkers hat sein Leben lang sich um diese Arbeit bemüht; dazu waren neue schwierige Probleme entstanden, zu deren Lösung er nicht mehr berufen sein konnte; er starb im Jahre 1931.

Beim Hauptproblem ging es um folgendes: In zwei Pariser Handschriften findet sich eine lange, anonyme Ordensregel, die man als Regula Magistri zu bezeichnen pflegt; sie enthält mehrere Kapitel, die fast wörtlich mit Teilen der Regula Benedicti übereinstimmen. Es war ein französischer Benediktiner, Dom. A. Genestout, der die Ansicht vertrat, diese Regula Magistri sei älter als die Regel Benedikts, ja sie hätte teilweise als Vorlage für die heilige Regel gedient; seither ist eine Flut von Literatur über dieses Problem erschienen, in der Genestout weitgehend Zustimmung gefunden hat.

Das war die Lage der Forschung, als der Ordinarius für Klassische Philologie an der Wiener Universität, Rudolf Hanslik, die Arbeit an der Edition der Regula aufnahm.

Aus einer 74 Seiten langen, in lateinischer Sprache geschriebenen Einleitung ergeben sich die von ihm gewonnenen Resultate: Benedikt hat seine Regula um 540 auf Monte Cassino geschrieben und sie knapp vor seinem Tod um 547, als schon neue Klöster im Entstehen waren, durch eine Einleitung und einen Anhang erweitert. Für den Gesamtplan hatten er wie auch der Verfasser der Regula Magistri ein gemeinsames Vorbild, die Regel des berühmten Inselklosters Lerin bei Nizza. Benedikt hat trotz dieses und anderer Vorbilder seine Regel als origineller Denker geschrieben; dagegen hat der Verfasser der Regula Magistri, die etwa 30 Jahre nach Benedikts Tod entstanden ist, die Leriner Regel weitgehend wortgetreu übernommen und erweitert, in einigen Kapiteln Benedikts Regel abgeschrieben, und zwar aus einer Kopie, die gegenüber der oft eigenwilligen Sprache Benedikts schon manche Text glättungen bot. Als gegen Ende des 6. Jahrhunderts die Langobarden Italien verwüsteten und 577 die Horden des Fürsten Zotto von Benevent Monte Cassino zerstörten, wanderten die Mönche mühsam mit einer der Reinschriften, die Benedikt aus seiner Originalaufzeichnung mehreren Mönchen diktiert hatte, nach Rom, wo ein schon zu Benedikts Lebzeiten gegründetes Kloster bestand. Die Reinschrift aus Monte Cassino kam entweder sofort oder später in den Besitz des Papstes. Dem von Papst Gregor dem Großen ausgehenden Missionsgedanken schloß sich auch das bene- diktinische Laterankloster an und wurde in seinen Bestrebungen von der Kirche unterstützt. Doch erkannte man dort, daß der Text nur dann Verbreitung finden könnte, wenn er von zahlreichen sprachlichen Härten, die schwer verstanden wurden, geglättet würde. Man erstellte also am Lateran einen interpolierten Text, der bald nach Frankreich, Oberitalien und England ging. Doch nahmen neugegründete Klöster nur selten den gesamten Wortlaut der Benediktinerregel auf. Vielmehr bildete man Mischregeln, bei denen ein Teil aus der Regula Benedicti, ein anderer aus der strengen Regel des heiligen Columban oder von Caesarius von Arles genommen war; eine um 655 für ein Frauenkloster in Besançon geschriebene Regula dieser Art ist erhalten. Der geglättete Text des Lateran hatte vor allem in England Verbreitung gefunden; von dort hat ihn der heilige Bonifatius auf das Festland gebracht. Jetzt erst setzte sich die milde Benediktinerregel gegenüber der strengen Columbanregel und den Mischregeln durch, zumal sie auch durch den heiligen Pirmin in Neugründungen eingeführt wurde. So fand in England, Frankreich, Deutschland und Oberitalien der geglättete Text weite Verbreitung.

In Feuer und Kriegssturm

Im 8. Jahrhundert wurde das bis dahin verödete Monte Cassino wieder besiedelt und durch den aus England gekommenen Mönch Willibrord in Benedikts Sinn neu hergestellt. Als ÄnerkeftMing lœhleJcté Papst ZachaVui# (741 bis 752) diferJim Lateran, auf bewahrte Reinschrift aus Monte tässinö dem Kloster wieder zurück, das nun den Text in der originellen Sprache S. Benedikts, wesentlich verschieden von allen sonst im Gebrauch gestandenen Handschriften, besaß.

Schon vor seinem Zug nach Italien hatte Karl der Große die Absicht, das kirchliche und monastische Leben in seinem Reiche zu reformieren. Im Jahre 787 stattete er auch Monte Cassino einen Besuch ab, wo seine Begleitung den Unterschied des dort im Gebrauch stehenden Regeltextes von den sonst verbreiteten Texten feststellte. Nach seiner Rückkehr ersuchte der Herrscher brieflich den Abt von Monte Cassino um eine genaue Abschrift des Cassinenser Textes, die der Historiker Paulus Diaconus besorgte. Karl aber ließ sich die Verbreitung dieses reinen Textes in seinem Reich angelegen sein und gründete bei Aachen ein Reformkloster, in welchem dieser Text vorlag und als verbindlich galt; daraus gingen die zwei besten Handschriften hervor: die schon früher genannte von S. Gallen und der Codex 2232 der Wiener Nationalbibliothek, die beide bald nach 800 geschrieben sind. Jene Handschrift aber, aus der sie letzten Endes stammen, die ehrwürdige Reinschrift von Monte Cassino, ging im 9. Jahrhundert zugrunde. Im Jahre 883 näherten sich die Sarazenen dem Mutterkloster, es kam zur zweiten Zerstörung von Monte Cassino. Diesmal flohen die Mönche mit dem Text nach Teano bei Capua; dort fiel das kostbare Dokument schon nach drei Jahren einem zufällig ausgebrochenen Feuer zum Opfer.

Zwar existierten damals hervorragende Abschriften von ihm; doch die Mönche waren den vertrauten, geglätteten Text gewöhnt. Die Folge davon war, daß sie immer wieder Mischtexte aus dem reinen und dem geglätteten herstellten. Prof. Hanslik hat, soweit dies möglich war, den originellen Text Benedikts aus den reinen Handschriften rekonstruiert. So ist mit dieser Ausgabe eine Lücke in einem der größten wissenschaftlichen Unternehmungen Österreichs, ja einem der größten in der gesamten wissenschaftlichen Welt, dem Wiener Kirchen- vätercorpus, geschlossen.

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