Suche nach HEIMAT

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Als stolzer Besitzer zweier deutscher Sätze kam Radek Knapp einst nach Österreich. Nach und nach ging ihm hier seine alte Heimat verloren.

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Als stolzer Besitzer zweier deutscher Sätze kam Radek Knapp einst nach Österreich. Nach und nach ging ihm hier seine alte Heimat verloren.

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Es gibt Emigranten, die mit einem Kamm, einem Foto oder einer Ziege im Gepäck nach Österreich gekommen sind. Ich war stolzer Besitzer zweier deutscher Sätze. Der erste ging: "Wo ist der Sturmbannführer Stettke?" und der zweite: "Mein Gewehr hat eine Ladehemmung". Ich hatte sie aus den Kriegsserien aufgeschnappt, die damals in Polen ständig ausgestrahlt wurden, um uns klar zu machen, dass vom Westen nur zwei Dinge zu erwarten sind: Zweiter Weltkrieg und ein überdurchschnittlicher Appetit auf unsere schönen slawischen Ländereien. Dennoch kam ich mit diesen Sätzen das erste halbe Jahr in Wien erstaunlich gut über die Runden. Ich kombinierte sie auch miteinander, so dass manchmal etwas Neues dabei herauskam.

Erst als ich in die Pubertät kam und der Satz "Mein Gewehr hat eine Ladehemmung" merkwürdiges Gekicher bei den Mädchen auslöste, begriff ich, dass ich meine Deutschkenntnisse radikal erweitern musste. Ich fing an, die Sprache des Feindes zu ergründen und musste erkennen, dass sie gar nicht so übel war. Ich erfuhr, dass so ein großer Dichter wie Goethe manchmal wie ein Pole dachte und so mancher polnischer Bauarbeiter wie Goethe.

Sprache macht der neuen Sprache Platz

Doch je besser ich die deutsche Sprache beherrschte, desto mehr litt darunter meine Muttersprache. Sie machte der neuen Sprache einfach Platz, so wie man in der Straßenbahn einem Passagier Platz machen muss. Zunächst unbemerkt und schmerzlos. Da begann mir zu dämmern, dass mir genauso auch die alte Heimat abhanden kam. Ähnlich wie einem die Kindheit verloren geht. Plötzlich findet man sich im Körper eines Erwachsenen wieder und wird auch als solcher angesehen.

Aber ich tröstete mich, dass ich damit nicht der einzige war. Wo ich nicht hinsah, ging den Leuten ihre Heimat verloren. Gerade meine polnischen Landsleute konnten zu diesem Thema nicht nur ein Lied, sondern eine abendfüllende Oper singen. Zunächst verschwand der polnische Staat 200 Jahre lang immer wieder von der Landkarte, um dann wieder an einem anderen Ort aufzutauchen. Dann mussten die Polen die künstliche Luft des Stalinstaates einatmen. Und schließlich kam der Kapitalismus.

Aber auch den Leuten im Westen ging es nicht besser. Der Kapitalismus hatte hier nämlich schon längst zugeschlagen. Man ebnete die Fußballplätze und Parks der Kindheit ein und baute darauf Einkaufszentren. Die Westler mussten nicht in ein anderes Land emigrieren, ja nicht einmal das Haus verlassen, um die Heimat zu verlieren. Man brauchte nur lange genug auf dem Sofa mit der Fernbedienung zu spielen, und die Welt besorgte es für einen. Innerhalb der letzten zehn Jahre wurden die Telefonzellen ins Museum verfrachtet, Büchereien in digitale Datenbanken umgewandelt und die Arbeit in Großraumbüros verlegt. Und sogar die spielenden Kinder sind von der Straße verschwunden. Unsere Zukunft sitzt jetzt in einem muffigen Zimmer vor dem Bildschirm, perfektioniert ihren Daumen, indem sie auf Pornoseiten surft und das Facebookkonto umsorgt.

Odysseus als Heimatexperte

Kein Wunder, dass heute jeder zweite mit Gewalt nach einer Heimat sucht. "Heimat ist da, wo deine Waschmaschine steht", sagen die Illustrierten, "Heimat ist ein Gefühl", halten die Ratgeber dagegen. Wie soll man da jemanden finden, der wirklich etwas davon versteht, fragte ich mich und zog einen erfahrenen Heimatexperten zu Rate, der sich mit diesem Thema auseinandergesetzt hat wie kein anderer: Odysseus. Seine Geschichte ist über 3000 Jahre alt, was bedeutet, dass die Leute schon immer ein Problem mit der Heimat hatten und dass diese Suche nach wie vor eine strahlende Zukunft vor sich hat. Als Odysseus Troja eingenommen hatte - oder, wie man heute sagen würde, einen anderen mächtigen Konzern übernommen hatte - und selbstzufrieden die Heimreise antrat, beschlossen die Götter, ihn in die Mangel zu nehmen, nach dem Motto: "Wenn du ein Gott sein willst, dann zeig' uns erst einmal, wozu du als Mensch fähig bist". Sie raubten ihm seine Kumpel, indem sie diese in das verwandelten, was sie unter ihren Armanianzügen immer schon waren - Schweine. Calypso zeigte ihm, dass der Wunsch nach Unsterblichkeit in Wahrheit der Wunsch nach ewiger Unreife war. Und als Odysseus zu Hause eintraf, war sein Haus voller Freier, die einen seichten, leichtlebigen, um nicht zu sagen digitalen Lebensstil eingeführt hatten. Wutentbrannt tötete er einen nach dem anderen, und als der oberste Freier, dem jungen arroganten Odysseus verblüffend ähnlich, ihn fragte, warum er sie tötete, obwohl sie selbst lediglich ein paar Plasmafernseher und Ipods nach Ithaka gebracht hatten, lautete Odysseus Antwort: "Ihr wolltet die Welt eines Mannes stehlen. Das ist das größte Verbrechen und darauf steht der Tod".

Nicht Ithaka, sondern das Ich

Spätestens hier begriff ich, dass Odysseus auf dieser Reise nicht sein Ithaka, sondern sein Ich fand. Er war Dank dem Geschenk der Götter und einer Reise, die man uns allen nur wünschen kann, von nun an in sich selbst beheimatet. Um es ihm gleich zu tun, begann ich dem Verlorenen nicht mehr nachzutrauern und hörte auf, die alte Heimat zu kopieren. Was ich zu sagen hatte, musste ich eben in der fremden Sprache sagen - und es klappte trotzdem. Manchmal kam der Inhalt sogar noch klarer zum Vorschein, als ich es mir je hätte wünschen können. Ging ich in den Wald, so war es nicht mehr der Wald meiner Kindheit, aber es war immer noch ein Wald, der den gleichen Geruch produzierte und in dem die gleichen Pilze wuchsen. Wenn ich jemanden meine Probleme erzählte, so war es nicht mehr meine Großmutter, die mir zuhörte, aber immerhin jemand, der mich auch verstand. Manchmal musste ich es zwar durch ein Handy erledigen und hätte mir gewiss mehr Blickkontakt gewünscht, aber man kann eben nicht alles haben. Und so hörte ich auf in die Breite zu graben, sondern grub nur noch in die Tiefe, die unter mir war.

"Ich hatte beschlossen, es schön zu finden"

Das eigene Ich bot auf einmal viel Platz. Meine Vergangenheit hatte sich dort eingefunden, meine Gegenwart sowieso, und was die Zukunft anging, so richtete ich mich von da an nach dem Rat des Schriftstellers Bohumil Hrabal, der gesagt hatte: "Das Leben ist schrecklich, aber ich hatte beschlossen, es schön zu finden". Und obwohl ich heute noch lange nicht so weit bin, so wie Odysseus den Boden der neuerschaffenen Heimat zu betreten, so habe ich bereits die Erkenntnis gewonnen, die jedem Heimatlosen zumutbar ist: "Wer keine Heimat hat, der kann nicht wirklich leben. Aber wer lebt, der kann alles haben, auch eine Heimat".

Der in Polen geborene Autor lebt als Schriftsteller in Wien. Zuletzt erschien sein Roman "Reise nach Kalino".

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