Warum nochmals "1968"? Dieses Thema ist noch lange nicht zu Ende, und zwar aus dem einfachen Grund: Die Generation, die heute in den wichtigen Positionen sitzt, in den Wirtschaftsbüros, in den Schulen als Lehrer, an den Universitäten als Professoren, gehört zu jenen Jahrgängen, die in ihrer Jugend und Ausbildung vom Klima der damaligen "Kulturrevolution" sehr wesentlich beeinflußt wurden. Daß es sich damals um eine solche Revolution handelte, wird aus einer jetzt zahlreich erscheinenden Literatur klar, die über alle Dokumentationen der damaligen Ereignisse verfügt, etwa Wolfgang Kraushaars "1968 - Das Jahr, das alles verändert hat" (Piper).
Die älteren Jahrgänge, die 1945 antraten, um das halbzerstörte Europa wiederaufzubauen, waren enorm erfolgreich gewesen, das Wirtschaftswunder war tatsächlich ein solches, niemand hätte nach Ende des Krieges davon auch nur zu träumen gewagt. Natürlich wurde ein Preis dafür gezahlt: Die in Notzeiten heranwachsenden Kinder wurden schlecht oder gar nicht erzogen. Froh war man, wenn sie genügend Kalorien erhalten konnten - die Eltern hatten mit ihren mehrfachen Berufen und ihrem Totaleinsatz (wenig zu essen, wenig zu heizen, keine Wohnungen) schlicht keine Zeit fürs Privatleben. Die "Vergangenheitsbewältigung" (Nazizeit) schob man teilweise beiseite, teilweise war den Kriegsteilnehmern alles klar, über die Katastrophen mußte nicht ausführlich geredet werden.
Die Generation, die 1968 über 18 war, stand das erste Mal als psychologisches Problem vor ihren Eltern. Sie hatte doch so viel mehr, hatte es erheblich leichter als damals sie selbst im Krieg, in der folgenden Trümmerzeit und den erbarmungslosen Aufbaujahren? Warum also die Revolution, der haßvolle Aufstand gegen die mühsam errichtete (freilich fehlerhafte) demokratische Ordnung? Heute sind die damaligen Jungrevolutionäre im Alter ihrer Eltern einst. Viele befinden sich nun in den entscheidenden Positionen - sind sie erfolgreich? Und was geschieht mit den noch viel zahlreicheren, die wenig oder fast nichts erreicht haben? Die anarchischen Jahre hinterließen Spuren: Schwierigkeiten mit der Pragmatik, der Disziplin, der notwendigen Härte gegen sich selbst. Die einstigen idealistischen Träumer in den heutigen Chefsesseln? Das ernste Schauspiel ist interessant.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!