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Der beschleunigte Weltuntergang

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Japan erlebt ein Aufblühen von Sekten mit totalitären Ansprüchen: Man kämpft gegen den Weltuntergang und gegen Dämonen.

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Japan erlebt ein Aufblühen von Sekten mit totalitären Ansprüchen: Man kämpft gegen den Weltuntergang und gegen Dämonen.

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Jeden Tag fahren etwa 3,8 Millionen Menschen durch das vorzüglich ausgebaute Netz von Untergrundbahnen in das Zentrum von Tokio zur Arbeit aus der etwa 35 Millionen Einwohner zählenden Umgebung der Bucht von Tokio. Die Verletzlichkeit dieses an sich vorzüglich funktionierenden Systems erwies sich am Morgen des 20. März - als an sechs Stellen in drei Bahnlinien aus harmlos aussehenden Lunchpaketen giftige Dämpfe aufstiegen und in dicht besetzten Zügen Panik erregten, als Tausende zusammenbrachen. Das Gift wurde identifiziert als das höchst gefährliche Nervengas Sarin, das im Zweiten Weltkrieg in Deutschland entwickelt wurde. Es tötet in kürzester Zeit durch Zerstörung der Atemwege, kann aber auch durch die Haut seine verheerende Wirkung ausüben.

Zuerst glaubte man an die Schandtat eines Wahnsinnigen; doch ließ die Art der Koordination bald planmäßiges Vorgehen erkennen.

Die Spurensuche führte zu einer seltsamen Sekte, die schon früher am Rand der Kriminalität operiert hatte: Aum-Shinrikyo geheißen.

A ist der erste Buchstabe des Sanskrit-Alphabets, UM der letzte Buchstabe. Am Eingang buddhistischer Tempel sieht man oft zwei Löwen, von denen einer das Maul aufreißt, weil er A ausspricht, der andere schließt es, weil er UM sagt. Ausgedrückt wird dadurch die Idee des Allumfassenden, wie Alpha und Omega in der christlichen Tradition durch den ersten und letzten Buchstaben des griechischen Alphabets Gott als den Inbegriff der Wahrheit in der Totalität des Seins bezeichnen. Shinri heißt Wahrheit. Kyo die Lehre, sodaß die Sekte durch ihren Namen den Anspruch erhebt, den Inbegriff aller Wahrheiten zu vertreten.

Gegründet wurde sie 1987 durch den Computer-Spezialisten Chizuo Mat-sumoto, der sich den Künstlernamen Shoko Asahara beilegte. Er gibt sich als Inkarnation des Buddha und des indischen Gottes Vishnu aus.

Er verkündet den Weltuntergang für das Jahr 1996, doch könne er ihn verhindern, wenn er vorher 30.000 Mitglieder gewinne. Die Anhänger leben in streng überwachten Gemeinschaften, übergeben dem Stifter ihr Vermögen und Einkmom-men und trainieren sich in ekstatischen Übungen und Tänzen. In Kyushu besiedelten sie ein ganzes Bergtal; auch am Berg Fuji gründeten sie eine Siedlung mit 25 Häusern. Die Medien berichteten seit Jahren von Schwierigkeiten mit lokalen Behörden und Nachbarn.

Vor etwa drei Jahren verschwand in Yokohama ein Advokat mit Frau und Kind, weil er Anhänger, die sich aus der totalen Umkla/nmerung durch die Sekte befreien wollten, beriet. In der leeren Wohnung fand die Polizei nur ein Abzeichen der Sekte als Hinweis auf mögliche Täter. Von der Familie wurde nie mehr eine Spur gefunden. Im Juni 1993 war das Gift Sarin erstmals in einem Garten in der Stadt Matsumato in Nagano freigesetzt worden, wobei acht Personen ihr Leben verloren und viele vorletzt wurden. Der Urheber wurde nie gefunden.

Im Sommer 1993 beklagten sich Nachbarn eines Tempels dieser Sekte im Koto-Quartier von Tokio über „Rauch belästigung”.

Bisher hatte die Polizei nie gegen diese Sekte eingegriffen, obwohl Hinweise auf kriminelle Aktivitäten keineswegs fehlten. Noch kürzlich war ein 68jähriger Mann namens Kiyoshi Karuya entführt worden. Der dabei verwendete Mietwagen wurde in einer Siedlung der Sekte entdeckt.

Das Zögern der Polizei erklärt sich wohl aus dem Bestreben der Behörden seit 1945, die Menschenrechte zu wahren und die totalitären Methoden der Kriegszeit zu vermeiden.

Diesmal aber wagte sie doch, mit 2.500 Beamten die Siedlung Kami Kui Shiki am Berg Fuji zu durchsuchen. Dabei eintdeckte sie große Lager von Chemikalien, die sich zur Produktion von Sarin eignen. Der Stifter war verschwunden.

Über die Motive der mutmaßlichen Täter kann man nur spekulieren. Vishnu war ein indischer Gott, der seine zerstörerischen Kräfte einsetzte, um die Dämonen zu vernichten. Fand er in Japan einen Nachahmer, der Anspruch erhebt, seine Inkarnation zu sein?

Die achtziger Jahre erlebten in Japan ein Aufblühen von Sekten mit totalitären Ansprüchen angesichts der Verunsicherung der Jugend durch den Zerfall überlieferter Gesellschaftsstrukturen und der traditionellen Religionen.

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