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Der Bund ohne Namen

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Haarlem, im Juli

„Bund ohne Namen“, wer kennt ihn? — Und doch ist er schon eine Macht. Seine Partisanen streifen schon durch das ganze Land. Sie tragen keine Waffen, aber sie sind Kämpfer. Kämpfer für den Frieden. Nicht in großen Scharen. Jeder für sich, durch sein persönliches Beispiel. Der Stifter des Bundes ist Henri de Greeve, ein Priester aus der Diözese Haarlem. Der Name hat in ganz Holland guten Klang. Man pflegt von Henri de Greeve zu sagen: „Er kann reden wie Brugman“. Brugman war einer der berühmtesten Kanzelredner des Mittelalters in den Niederlanden.

Schon als junger Priester zeichnete sich de Greeve durch seine glänzende Beredsamkeit aus. Er durchkreuzte als Prediger das ganze Land. In der großen Wirtschaftskrise, die vor dem Kriege Holland befiel, wurde er durch sein Wirken unter den Arbeitslosen berühmt. Der katholisdie Rundfunk Hollands forderte ihn damals auf, jeden Samstag abends eine kurze Ansprache an seine Hörer zu halten. Hatte er zuvor von der Kanzel, durch Bücher und Zeitungsaufsätze für seine Ideen wirken können, so wurde ihm jetzt Gelegenheit geboten, sich an die breiten Massen des ganzen niederländischen Volkes zu wenden. In dem schon fast aussichtslos scheinenden Kampf um die Seele vieler Tausender im Materialismus und der Selbstsucht Versunkener errichtete er den „Bund ohne Namen“. Dessen einziges Ziel: Liebe zu Gott und völlig selbstlose Liebe zu dem Nächsten! Dieser Bund hat keine registrierten Mitglieder, keinen Vorstand, keinen Schriftführer und auch keinen Kassenführer. Jeder, der seinem Nächsten uneigennützig dient, irgendwie, wie er kann, ihm liebreich beistehen will, kann sich als Mitglied des Bundes betrachten.

Es war erstaunlich, wie schnell dieser Gedanke sich verbreitete. Wie ein Lauffeuer lief seine Botschaft durch das ganze Land.

De Greeve wurde mit Briefen überschüttet, in denen Leute verschiedensten Glaubens ihm ihr Verständnis und ihre Übereinstimmung mit seinem Wollen zeigten. L einen Viertelstunden im Rundfunk hämmerte er jeden Samstag auf den Amboß: „Nächstenliebe!“

Ich erinnere mich, daß ich oft vor dem Kriege in Familien war, in denen an jedem Samstagabend, um ein Viertel. nach acht, alle ihm Wohnzimmer versammelt waren, in einem selbst auferlegten Schweigen — denn de Greeve sprach . . .

Dann kam seine neue Unternehmung, die „Hobelaktion“. Der „Bund ohne Namen“ ließ kleine weiße Karten drucken. Auf ihnen standen einige kurze Schlagzeilen, Parolen, die bestimmt waren, sich in den Gehirnen einzunisten, sie mit den Ideen des Bundes zu erfüllen. Die berühmteste dieser Schlagzeilen hieß: „Verbessere die Welt, fange mit Dir selbst a n“. Bald sah man diese Karten in Warteräumen, in Läden, in Bahnhöfen. Die Zahl der Menschen, die solch eine Karte haben wollten, mehrte sich täglich. Das Bemerkenswerteste an dieser Aktion war, daß sie über jede weltanschauliche, konfessionelle Grenze hinausgriff. Auch ganz vom Christentum Abgekommene unterstützten sie. „Nörgle nicht, sondern schätze! Vergiß und verzeih!“ rief eine dieser Karten. „Sind Sie Sonne- oder Gewitterwolke?“, eine andere — oder „Volkseinheit oder Nächstenliebe?“ „Seien Sie nicht gleich beleidigt!“ „Treten Sie nicht auf das Herz Ihrer Mitmenschen!“ — Es dauerte nicht lange, da baten viele der Rundfunkhörer Henri de Greeve, die Lichtbake — so wurde die Samstagansprache genannt — in Druck zu geben. So erschienen dann in Form eines kleinen Wochenblattes „Die Lichtstreifen“. Ein sehr einfacher Text, doch der Mühe wert, ihn sich anzusehen. An erster Stelle, als Leitartikel, „Die Lichtbake“ — die Anspradie des Rundfunkredners. Ihr folgten kurze Betrachtungen für jeden Tag der Woche. In volkstümlicher Weise versuchte de Greeve — in der Rubrik „Höhensonne“, den einfadien und gebildeten Leuten das Meditieren zu lehren, das Buch der Bücher wurde hiebei nicht vergessen. Die Wochenschrift endete mit der Beantwortung einiger der zahlreichen Briefe, die der Rundfunkredner jeden Tag erhielt.

Während des Krieges, unter deutscher Besetzung, wurde Henri de Greeve als Geisel verhaftet und hatte einige Jahre in einem Internierungslager zu verbringen. Als die Alliierten im Herbst 1944 die südlichen Provinzen Hollands befreiten, hörte man bald wieder de Greeve im Rundfunk. Bei der Kapitulation der deutschen Truppen im Mai 1945, als de Greeve endlich nach Haarlem gehen konnte, gab es in den Westprovinzen Hollands sehr viele unterernährte Kinder. Die Hilfskolonnen taten, was *ie konnten, aber noch viel mehr war notwendig, die Privatinitiative, und da ging de Greeve in jenen Tagen mit seinem großen Beispiel voran.

In der Uniform eines Almoseniers de* holländischen Heeres unternahm er es, in der Zeit der ärgsten Not, wo es überall an allem fehlte, dreihundert Kinder aus Rotterdam, Hollands am schwersten mitgenommener Stadt, zu kleiden und zu ernähren. Es war ein Beispiel, das viele aufriditete und zur Nadiahmung anspornte. — Damals wohnte er einige Tage der Woche in einem Nonnenkloster, wie ein Vater mit seinen Pflegekindern beschäftigt. Die letzten Tage der Woche verbrachte er wieder im Hause der Brüder des St. Johannes de Deo in Haarlem, seinem eigentlichen Wohnort — auch hier der Caritas sich widmend.

In dem Villendörfchen Heemstede bei Haarlem wurde der Bund neu errichtet. „Die Lichtstreifen“ erschienen wieder. Jeden Samstag spricht jetzt Henri de Greeve — wie vor dem Kriege — im Rundfunk. Jetzt bemüht er sich um die Betreuung der Kriegsbeschädigten. Seine Stimme ist eindringlich, ermahnend, drohend, gegen die Unbarmherzigen oft hart und streng. So hat er sich viele Freunde, aber audi viele Feinde gemacht, denn es ist nid immer angenehm, die Wahrheit zu hören. Dennoch glaube ich, nicht zuviel zu sagen: An mandien Samstagen hört wenigstens ein Drittel der nieder-ländischen Bevölkerung seinen Worten zu.

In Holland mangelt es in den vom Kriege hart heimgesuchten Gegenden an Glas. — Wir sind ein armes Volk geworden, wir, die ehemaligen reichen Holländer. Wir leben jetzt fast zwei Jahre nach der Befreiung: Wissen Sie, daß trotzdem in dem südlichen Teil der Niederlande noch unendlich viel Leute in Kellern, Holzschupfen, Notwohnungen, Ruinen wohnen — fast ohne Fenster, die Löcher nur notdürftig mit Brettern verschlagen? Auch viele Holländer wußten das nicht! Und da spradi de GreeVe im Rundfunk. Er schlug vor, die Holländer, die nicht vom Kriege geschädigt seien, sollten das Glas aus ihren Familienporträts und Wandbildern nehmen, den Spiegelbelag abkratzen* und mit dem Glas den Notleidenden helfen. In fast sarkastischer Weise geißelt er die Mißstände:

„In Amsterdam werden Telephonzellen aus Glas errichtet, in Seeland und Limburg wohnen Menschen in Hühnerställen hinter Netzdraht. Ich habe vernommen, in Haag werde eine große Tanzdiele gebaut, und sie werde mit großen Glasscheiben versehen. Tanzdielen brauchen wir jetzt weniger als je, und wenn man je auf dem Boden der Hölle getanzt hat, so tut man das jetzt.“ Er hatte nicht tauben Ohren gepredigt. Kaum hatte er gesprodien, so bildeten sich in Holland Aussdiüsse von Menschen, die in ihrer freien Zeit die Glassammlung einleiteten. An einem festgesetzte Tage wurde dann das Glas aus den Häusern abgeholt. In Haarlem stellte der Ortskommandant die Kraftwagen des Heeres der Aktion zur Verfügung. Es wurde ein großer Erfolg. Tausende Quadratmeter Glas wurden den Notgebieten gespendet.

Zusammenfassend kann man sagen, wenn man heute wissen will, wie groß die Not in Holland ist, so höre man nur einige Minuten diesem Redner zu, und man ist völlig im Bilde. Aber man erfährt auch, was ein vom rechten Geiste aktiver Nächstenliebe und sozialer Gesinnung erfüllter Mann zu leisten vermag. So mancher Zuhörer in Holland hat, nachdem er de Greeve gehört hat, für seine Landsleute das , Letzte gegeben, das er hatte.

Der Leitspruch Flenri de Greeves ist noch immer: „Wenn ich die Liebe nicht habe, bin ich nichts!“

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