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Der Fall Burgenland

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Der Aufsatz Dr. Rennhofers „Das .verschacherte’ Burgenland“ in der Ausgabe vom 17. Februar dieses Jahres hat mich besonders interessiert, da ich dn den Jahren 1919 bis 1924 auf meinem Dienstposten an der österreichischen Gesandtschaft in Budapest intensiv mit dem Problem „Burgenland“ beschäftigt war. Zu den Ausführungen Dr. Rennhofers hätte ich einige Bemerkungen zu machen, die vielleicht manche Unklarheit zu beseitigen vermögen:

1. Dr. Rennhofer wird vergeblich im ungarischen Staatsarchiv nach irgendeiner, schriftlichen Erklärung Dr. Seipels’ suchen, in der er einen Verzicht Österreichs auf die im Staatsvertrag von St. Germain vorgesehene Angliederung der westungarischen Komitate ausgesprochen hätte. Dr. Seipel war bekanntlich im Jahre 1920 weder Bundeskanzler noch bekleidete er irgendein Verantwortung tragendes Amt. Dr. Kerekes hat mehrfach den Wortlaut der angeblichen „Erklärung“ veröffentlicht. Mir liegt zum Beispiel ein Aufsatz aus seiner Feder über die öster reichische Heimwehrbewegung vor, den die Zeitschrift „Österreich in Geschichte und Literatur“ in ihrer Folge 1 (Jänner 1965) des 9. Jahrganges publiziert hat. Dieser Text ist, wie jeder mit dem diplomatischen Schriftverkehr vertraute Leser erkennen wird, ein Exzerpt aus einem Bericht oder einem Amts- vermerk der ungarischen Gesandtschaft in Wien, somit eine mehr oder minder subjektive Teildarstellung eines Gespräches, das offenbar zwischen dem ungarischen Gesandten Dr. Gratz und Dr. Seipel sowie anderen österreichischen Politikern stattgefunden hat. Es handelt sich demnach keineswegs um eine „schriftliche Erklärung Dr. Seipels“.

Fühlungnahmen

2. Daß in den Jahren 1920 bis 1921 Fühlungnahmen zwischen Experten der ungarischen Regierung, in erster Linie zwischen dem ungarischen Gesandten in Wien Dr. Gratz, und einer Reihe von österreichischen Patrioten über das westungarische Problem stattgefunden haben, war weithin bekannt und kann auf Grund der neuesten ungarischen Aktenpublikation gewiß nicht geleugnet werden. Auch diese (heute als Sensation herausgestellten und zur Kritik an längst verstorbenen weltanschaulichen Gegnern benützten) Kontakte und Absprachen können vom Standpunkt der Geschichtsschreibung, deren Ideal weitestmögliche Annäherung an die historische Wahrheit ist, nur im Zusammenhang mit dien Umständen beurteilt und gewertet werden, unter denen sich diese Begebenheiten zugetragen haben. Diese Umstände lassen sich — freilich nur schlagwortartig — ungefähr so skizzieren:

Ungarns Lage

Ungarn hatte eben erst das Debakel der viermonatigen kommunistischen Episode Bėla Kun’s sowie die militärische Besetzung durch Rumänien überlebt; es sah sich den überaus harten, bereits bekannten Bedingungen des Staatsvertrages (von Trianon) gegenüber, die nebst allen Verstümmelungen des Territoriums der Stephanskrone die Abtretung der westungarischen Komitate an Österreich enthielten, mit dem es sich durch Jahrhunderte in rechtlicher und wirtschaftlicher Symbiose befunden hatte. Über Österreich führte überdies Ungarns einziger Zugang zu Westeuropa.

Ist es verwunderlich, daß das nationale ungarische Regime Horthys alles daransetzte, um sich der Verpflichtung zur Aufgabe der westlichen Komitate zu entziehen? Die impulsive Sabotierung dieser Verpflichtung durch Freischärler-Aktionen konnte naturgemäß keine dauerhafte Lösung herbeiführen. Die Budapester Regierung sah schließlich in der Bestimmung bezüglich der Abtretung der westungarischen Komitate an Österreich den teufli schen Plan der Siegermächte, zwischen beide Länder einen Zankapfel zu werfen, der diese nicht nur auf ewige Zeiten verfeinden und von einander trennen, sondern auch den imperialistischen Interessen der beiden Lieblingskinder der Westmächte, Tschechoslowakei und Jugoslawien, dienen sollte (die bekannten Korridorpläne).

Ebenso wenig verwunderlich muß erscheinen, daß österreichische Politiker in Anbetracht der damals in Österreich herrschenden Verhältnisse den Gedankengängen Ungarns einiges Verständnis entgegenbrachte. In der historischen Literatur über die ersten Nachkriegsjahre in Österreich findet man unwiderlegliche Beweise des rasanten Verfalles der österreichischen Wirtschaft und eines politischen Auflösungsprozesses, der

— überdies inmitten feindlich gesinnter Nachbarn im Norden, Süden und Südosten — in anarchische Zustände zu münden drohte. Unter diesen — beiderseitigen — Aspekten wird man wohl auch die als „Ver- schacherung“ gebrandmarkten Versuche verstehen müssen, dem akuten, blutigen Hader in den westungarischen Komitaten ein Ende zu setzen und zu einer Art „Stillhalteabkommen“ in dieser Streitfrage zu gelangen. Die Voraussetzung für ein solches Abkommen war zwangsläufig eine radikale Änderung des in Österreich herrschenden und von unzähligen, besorgten und aufrechten österreichischen Bürgern abgelehnten und bekämpften Regimes.

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