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Der Pyjama-Vertrag

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Für den Journalisten war es eine Selbstverständlichkeit, einen Besuch im Hauptquartier der russischen Volkskommissare in Santa Margherita abzustatten. Die Russen wohnten hier im großen, eleganten Hotel „Imperial“. Hier waren nicht nur europäische Journalisten in Massen versammelt, sondern vor allem amerikanische, aber auch damals schon auffallend viele asiatische. Natürlich wollten wir alle mit Tschitscherin sprechen, aber begreiflicherweise hatte er in diesen Tagen nicht einmal für die Presse Zeit. Wir mußten uns mit „zweitrangigen Göttern“, wie es Joffe und Litwinow waren, begnügen. In Genua hielt Rakowski, der geborene Rumäne, täglich seine Vorträge für die Presse im Hotel De Genes.

Da sahen wir ihn vor einem Katheder stehen, wie einen Vorlesung haltenden Professor. Wie ein „roter Faden“ zog sich durch seine Vorträge die Behauptung, daß die Sowjets gar nicht daran dächten, in irgendeinem fremden Land eine Revolution hervorzurufen. Auch sei es eine Verleumdung, daß sie verschworene Feinde des Kapitalismus seien. Sie seien auch schon in Rußland dabei, sich in irgendeiner Form dem Kapitalismus zu nähern. Übrigens sei das russische Volk das freieste der ganzen Welt...

Am Tage nach dem Bekanntwerden des Vertragsabschlusses konnten wir Rakowski in seinem Vortragssaal nicht antreffen. Auch er war an diesem Tag nicht zu sprechen. Erst am Abend sahen wir ihn.

Der elegante Speisesaal dieses vornehmen Hotels war der Schauplatz einer Zusammenkunft der damals interessantesten Persönlichkeiten der politischen Welt. Wir Journalisten waren nur Zaungäste dieser Veranstaltung.

Beim Vorbeigehen eine kurze Frage an Dr. Wirth: „Herr Kanzler, zufrieden... ?“ Er lächelte: „Schon. Wir glauben die größte Gefahr für uns abgewendet zu haben.“ Wenige Minuten später begann im Saal das — Siegesbankett. Alle Herren im Smoking. Die Tische mit den herrlichsten Blumen der Riviera dekoriert.

Der den ersten Toast ausbringt, ist Dr. Wirth. Er sagte unter anderem: „Das europäische Proletariat ist heute eine Macht, mit der jeder rechnen muß. Ebensowenig darf man die Bedeutung des Bolschewismus unterschätzen.“ Applaus.

Nach einem neuen Gang sprach Tschitscherin: „Ohne Kapitalismus kann von einem Neuaufbau Europas keine Rede sein, man dar.f daher die Bedeutung des Kapitalismus nicht unterschätzen.“ Applaus... An diesem Tage hatte übrigens der Rapallo-Vertrag auch schon einen anderen Namen. Weil er von Rathenau in der Nacht in seinem Hotelzimmer unterfertigt wurde, erhielt er die Bezeichnung: Pyjama-Vertrag.

Der Rapallo-Vertrag blieb schließlich das einzige greifbare Ergebnis dieser Konferenz, die noch einen ganzen Monat lang weiter tagte. Wir österreichischen Journalisten wandten uns aber weltpolitisch kleineren, uns näher liegenden Problemen zu. Eines davon war der gerade in diesen Tagen gerüchtweise behauptete Beitritt Österreichs zur „Kleinen Entente“. Die zweite Frage betraf, wie schon erwähnt, das Verhältnis Österreichs zu Ungarn. Bundeskanzler Dr. Schober gab mir im Hotel Savoy zu Nervi, dem Sitz der österreichischen Delegation, ein Interview zu beiden Fragen. Zu der „Kleinen Entente“ sagte er wörtlich. „Wir sind der .Kleinen Entente' niemals beigetreten, die diesbezüglichen Pressemeldungen sind also falsch. Uns geht die .Kleine Entente' überhaupt nichts an beziehungsweise nur so weit, daß wir mit ihren einzelnen Mitgliedern Handelsverträge abgeschlossen haben. Keineswegs aber besteht zwischen uns und den Tschechen eine engere Bindung als eine solche zu Ungarn.“

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